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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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die Tatsache zu Hilfe, dass das Viertel nur noch halb so groß war, wie ich es in Erinnerung hatte.
    Wir fanden den Ort, an dem ich gelebt hatte, bevor ich zugelassen wurde: zwei zu einem L zusammengesetzte Schutzmodule und ein weiteres L aus Maschendraht als Ergänzung zu einem unkrautbewachsenen Kreuzgang, der ein defektes Mobo und zwei kaputte Hole beherbergte, von denen das ältere noch mit meiner Hilfe aufgebockt worden war. Das Tor war mit vier verschiedenen Schildern unterschiedlichen Alters verziert, die versprachen, dass jeder Eindringling getötet würde, was mir weit weniger einschüchternd erschien, als ein einzelnes Schild es gewesen wäre. Ein winziges Bäumchen, ungefähr so groß wie mein Unterarm, war aus einer verstopften Regenrinne gesprossen. Sein Samen musste vom Wind oder von einem Vogel dorthin getragen worden sein. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis er so groß war, dass er die Dachrinne komplett abriss. Drinnen lief ein lautes bewegtes Bild auf einem Spulocorder, sodass wir lange Hallo brüllen und am Tor rütteln mussten, bevor jemand auftauchte: eine Frau um die zwanzig. Als ich acht war, dürfte sie für mich ein Großes Mädchen gewesen sein. Ich versuchte, mich an den Namen des Großen Mädchens zu erinnern.
    »Leeya?«
    »Sie ist weggezogen, als diese Burschen gingen«, erklärte die Frau, als kämen jeden Tag Männer in Kapuzen an ihre Tür und beschwörten die Namen längst verloren geglaubter Verwandter herauf. Sie warf einen Blick über die Schulter, um eine feurige Explosion auf dem Spulocorder anzuschauen. Als der Lärm der Explosion verebbte, konnten wir die Stimme eines Mannes hören, der etwas fragte. Sie erklärte ihm, was sie tat. Er konnte ihrer Erklärung nicht ganz folgen, weshalb sie dieselben Worte lauter wiederholte.

    »Ich nehme an, innerhalb deiner Familie hat sich so etwas wie eine gruppeninterne Spaltung vollzogen, während du weg warst«, sagte Jesry. Ich hätte ihn am liebsten verdroschen. Doch bei einem Blick in sein Gesicht erkannte ich, dass er nicht versuchte, oberschlau zu sein.
    Die Frau wandte sich uns wieder zu. Ich spähte sie durch eine Öffnung zwischen zwei Schildern an, die drohten, mich zu töten, und ich war nicht sicher, dass sie mein Gesicht sehen konnte.
    »Man nannte mich Vit«, sagte ich.
    »Der Junge, der zu der Uhr ging. Ich erinnere mich an dich. Wie geht’s?«
    »Gut. Und selbst?«
    »Lass es locker angehen. Deine Mama ist nicht hier. Sie ist weggezogen.«
    »Weit weg?«
    Sie verdrehte die Augen, verärgert darüber, dass ich sie gebeten hatte, eine solche Einschätzung zu treffen. »Weiter als ihr vermutlich gehen könnt.« Wieder brüllte der Mann drinnen etwas. Sie musste uns erneut den Rücken zukehren und ihre Aktivitäten zusammenfassen.
    »Allem Anschein nach ist sie keine Anhängerin der Dravicularen Ikonographie«, sagte Jesry.
    »Woher weißt du das?«
    »Sie sagte, du seist zur Uhr gegangen. Freiwillig. Nicht, dass du von den Avot mitgenommen oder entführt worden wärst.«
    Die Frau wandte uns wieder das Gesicht zu.
    »Ich hatte eine ältere Blutsverwandte namens Cord«, sagte ich. Und wies mit einem Kopfnicken auf den älteren der kaputten Hole. »Frühere Besitzerin von dem da. Ich habe geholfen, ihn da hinzustellen.«
    Die Frau hatte eine vielschichtige Meinung von Cord, was sie dadurch zum Ausdruck brachte, dass sie rasch hintereinander mehrere Emotionen über ihr Gesicht spielen ließ. Zum Schluss atmete sie scharf aus, ließ die Schultern sinken, reckte das Kinn und setzte ein Lächeln auf, von dem ich annahm, dass es erkennbar künstlich sein sollte. »Cord bastelt ständig an Zeug herum.«
    »Was für Zeug?«
    Diese Frage war für sie noch ärgerlicher als mein vorheriges »Weit weg?«. Demonstrativ wandte sie sich den bewegten Bildern zu.

    »Wo sollte ich nachschauen?«, versuchte ich es.
    Sie zuckte die Achseln. »Vermutlich seid ihr auf dem Weg hierher daran vorbeigekommen.« Und sie erwähnte einen Ort, an dem wir, unweit des Jahrzehnttors, tatsächlich vorbeigekommen waren. Dann trat sie einen Schritt nach hinten, da der Mann im Innern einen Bericht ihrer jüngsten Taten verlangte. »Geht es locker an«, sagte sie, winkte und entschwand aus unserem Blick.
    »Jetzt bin ich wirklich gespannt auf die Begegnung mit Cord«, sagte Jesry.
    »Ich auch. Lass uns hier fortgehen«, sagte ich und kehrte dem Ort den Rücken zu – vermutlich zum letzten Mal, da ich mir nicht vorstellen konnte, bei der nächsten

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