Anathem: Roman
Apert wiederzukommen. Vielleicht, wenn ich achtundsiebzig war. Die Aufforstung war ein erstaunlich schneller Prozess.
»Was ist eine Blutsverwandte? Warum benutzt du dieses Wort?«
»In manchen Familien ist nicht ganz klar, wie die Leute verwandt sind.«
Wir gingen rascher, sprachen weniger und überquerten innerhalb kürzester Zeit wieder die Brücke. Da der Ort, wo Cord arbeitete, so nah beim Konzent lag, gingen wir vorher hinauf ins Burgherviertel und fanden Jesrys Haus.
Als wir durch das Tagestor getreten waren, war Jesry ein paar Minuten lang still und zerstreut gewesen, bevor er seine Schimpfkanonade losgelassen hatte. Jetzt kam mir eine Draufsicht, und zwar, dass er damit gerechnet hatte, seine Familie wartend vor dem Tor anzutreffen. Als wir uns nun seinem alten Haus näherten, war ich gespannter als zuvor auf dem Weg zu meinem. Ein Portier ließ uns am Tor ein, und wir streiften die Sandalen ab, damit das feuchte Gras unseren geschundenen Füßen Linderung verschaffte. Als wir in den dunklen Schatten des baumbestandenen Gürtels um das eigentliche Wohnhaus traten, warfen wir unsere Kapuzen zurück und verlangsamten unseren Schritt, um die kühle Luft genießen zu können.
Niemand war zu Hause, abgesehen von einem Dienstmädchen, dessen Fluckisch für uns schwer zu verstehen war. Sie schien uns zu erwarten; sie überreichte uns ein Blatt, nicht von einem Seitenbaum, wie sie im Konzent wuchsen, sondern ein maschinengefertigtes. Es sah aus wie ein offizielles Dokument, das auf einer Presse gedruckt oder von einer syntaktischen Vorrichtung erstellt worden
war. Oben stand das Datum vom Vortag. In Wirklichkeit war es aber eine persönliche Nachricht, die Jesrys Mutter mithilfe einer Maschine zur Erzeugung ordentlicher Buchstabenreihen an ihn geschrieben hatte. Sie hatte sie in Orth verfasst, mit nur wenigen Fehlern (die Verwendung des Konjunktivs war ihr nicht geläufig). Dabei hatte sie Begriffe benutzt, die wir nicht kannten, aber die Kernaussage schien zu sein, dass Jesrys Vater weit weg von zu Hause viel gearbeitet hatte, für irgendeine Einheit, die man schlecht erklären konnte. Angesichts des Teils der Welt, in dem sie sich befand, war uns jedoch klar, dass es irgendein Organ der Säkularen Macht sein musste. Tags zuvor sei Jesrys Mutter höchst widerwillig und unter Tränen zu ihm abgereist, denn seine Karriere hänge davon ab, dass sie an irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis teilnähme, das man ebenfalls nur schwer erklären könne. Sie hätten die feste Absicht, zum Bankett am Zehnten Abend wieder da zu sein, und gäben sich außerdem alle Mühe, auch Jesrys drei ältere Brüder und zwei ältere Schwestern zusammenzutrommeln. Einstweilen habe sie ihm Kekse gebacken (was wir bereits wussten, da das Dienstmädchen sie uns schon herausgebracht hatte).
Jesry führte mich im Haus herum, das wie ein Math wirkte, allerdings mit weniger Leuten. Es gab sogar eine raffinierte Uhr, mit der wir uns lange beschäftigten. Aus den Regalen zogen wir Bücher, in die wir uns eine Weile vertieften. Als die Glocken der Bazischen Kathedrale gegenüber zu läuten begannen, gefolgt vom Glockenspiel der raffinierten Uhr, wurde uns bewusst, dass wir jeden Tag Bücher lesen konnten, worauf wir sie verlegen wieder in die Regale stellten. Nach einer Weile landeten wir auf der Veranda, wo wir die letzten Kekse aßen. Wir schauten die Kathedrale an. Bazische Architektur war mit der mathischen verwandt, allerdings breit und abgerundet, wo unsere schmal und spitz war. Diese Stadt war für die säkulare Welt jedoch nicht annähernd so wichtig wie der Konzent Saunt Edhar für die mathische Welt, weshalb die Kathedrale im Vergleich zum Mynster mickrig aussah.
»Bist du schon glücklich?«, scherzte Jesry mit einem Blick auf die Kekse.
»Es dauert zwei Wochen«, sagte ich, »deshalb ist die Apert ja nur zehn Tage lang.«
Wir schlenderten über den Rasen. Dann gingen wir wieder hinaus und begaben uns den Hügel hinunter.
Cord arbeitete auf einem Gelände, wo alles aus Metall gefertigt war, was es als einen schon lange existierenden Ort auswies – nicht ganz so lang wie ein Ort, an dem alles aus Stein war, aber vermutlich bis in die Mitte des Praxischen Zeitalters zurückreichend, als Stahl billig geworden war und Wärmekraftmaschinen begonnen hatten, sich auf Schienen zu bewegen. Es lag eine Viertelmeile vom Jahrhunderttor entfernt am Ende einer Slipanlage, die aus dem Fluss gegraben worden war, damit Lastkähne in dieses
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