Anathem: Roman
wach war, waren mehrere andere an seinen Anzug angestöpselt und stellten ihm Fragen über innere Details des Schiffes, die keinen Eingang in das Modell gefunden hatten: zum Beispiel, wie sich die Türen schlossen, wie man die Schließmechanismen bediente, wie man einen Fthosier von einem Troäner unterschied. Ich erfuhr, dass sich die Geometer besonders vor Feuer in den schwerelosen Teilen des Schiffes fürchteten und dass man nicht mehr als hundert Fuß gehen konnte, ohne auf einen Spind mit Atemschutzgeräten, feuerfesten Anzügen und Feuerlöschern zu stoßen.
Damit blieb immer noch eine Menge Freizeit. Nach zwei Tagen stellte ich eine Privatverbindung zu Jesry her und erzählte ihm über die Allestöter, was ich wusste. Er hörte aufmerksam wie in einem Schreibsaal zu und sagte nicht viel. Indem ich sein Gesicht auf dem Spuloschirm betrachtete, erkannte ich, dass er gründlich darüber nachdachte – sich klarmachte, warum das plausibel war. Für ihn hatte von Anfang an auf der Hand gelegen, dass es etwas gab, was man uns vorenthielt. Ansonsten ergab die Mission so, wie es aussah, keinen Sinn. Ich hatte ihm Stoff zum Nachdenken geliefert. Bis er darüber nachgedacht hatte – bis er einen Gedanken hatte, der nicht naheliegend war -, hätte er nichts dazu zu sagen.
Von Zelle 87 trudelten Textnachrichten ein, die auf meinem Bildschirm erschienen. Die ersten paar waren wie gewohnt. Dann wurden sie allmählich sonderbar.
Tulia: Bitte kläre eine hier unten entstandene Streitfrage … wie viele seid ihr da oben?
Ich tippte eine Antwort: Entschuldige bitte, aber willst du wissen, wie viele von uns noch am Leben sind? Dann schickte ich die Nachricht ab. Erst nachdem ich eine Zeitlang über diesen Austausch nachgebrütet hatte, ging mir auf, dass ich ihre Frage nicht beantwortet hatte. Bis dahin hatten wir allerdings die Verbindung zum Boden verloren.
Ich berief eine Zusammenkunft ein. Wir stöpselten uns alle zusammen.
»Meine Unterstützungszelle weiß nicht, wie viele von uns noch am Leben sind«, verkündete ich.
»Meine auch nicht«, sagte Jesry sofort. »Sie behaupten, ich hätte ihnen vor ein paar Stunden eine Mitteilung geschickt, aus der hervorgegangen sei, dass zwei von uns tot sind.«
»Und, hast du?«
»Nein.«
»Meine Unterstützungszelle hat mir ziemlich lange überhaupt keine Mitteilungen geschickt«, sagte Suur Esma, »weil man dort überzeugt war, dass ich beim Start ums Leben gekommen wäre.«
»Ich frage mich, ob mit dem Antischwarm etwas schiefgegangen ist«, sagte ich. »Eigentlich müssten doch alle diese Zellen über das Retikulum miteinander reden, oder? Sich miteinander abstimmen?«
Wir sahen Sammann an. Eine ganz neue Körpersprache war erforderlich. Da man Gesichter nicht unmittelbar sehen konnte, hatten
wir uns angewöhnt, dem Gesprächspartner den Körper zuzudrehen, um ihm zu signalisieren, dass wir ihm zuhörten. Und so wandten sich nun neun Raumanzüge Sammann zu. Fraa Jad jedoch schien nicht interessiert zu sein. Er hatte sich bereits von der Zusammenkunft abgestöpselt und kraxelte zu einem anderen Teil des Gerüsts. Aber er hatte, seit wir im Raum waren, kaum ein Wort von sich gegeben, und wir beachteten ihn nicht weiter. Allmählich fragte ich mich sogar, ob er einen Gehirnschaden erlitten hatte.
»Es ist tatsächlich etwas schiefgegangen«, bestätigte Sammann.
»Haben die Geometer eine Möglichkeit gefunden, das Retikulum zu stören?«, fragte Osa.
»Nein, das Ret – jedenfalls seine physische Ebene – funktioniert ausgezeichnet. Aber es gibt einen niederen Fehler in der Dynamik des Reputon-Raums.«
»Wenn ihr in der Ita-Sprache etwas als ›nieder‹ bezeichnet«, sagte ich, »dann meint ihr damit, dass es wirklich wichtig ist, stimmt’s?«
»Ja.«
»Kannst du etwas mehr darüber sagen, was das für uns bedeutet?«, bat Lio.
»In der Frühzeit des Retikulums – vor Tausenden von Jahren – wurde es beinahe nutzlos, weil es mit falschen, veralteten oder ausgesprochen irreführenden Informationen vollgestopft war«, sagte Sammann.
»Scheiße hast du das mal genannt«, erinnerte ich ihn.
»Ja – ein technischer Begriff. Also wurde das Herausfiltern von Scheiße wichtig. Daraus entstanden ganze Unternehmen. Einige dieser Unternehmen haben sich einen schlauen Plan einfallen lassen, um mehr Geld zu verdienen: Sie haben den Brunnen vergiftet. Sie haben begonnen, absichtlich Scheiße ins Retikulum zu stellen, und die Leute damit gezwungen, die Scheiße mithilfe
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