Anathem: Roman
Aufmerksamkeit und forderte uns pantomimisch auf, uns an irgendetwas festzuhalten. Dann zählte er mit den Fingern. Bei »fünf« wurde eine seiner Skeletthände redundant, und er packte damit einen Tragarm am Steuerpult des Reaktors. Bei »eins« packte er ihn auch mit der anderen Hand, während Jesry einen Schalter betätigte. Das Ergebnis war nicht dramatisch, aber deutlich zu erkennen: Wir sahen, wie sich das Halteseil leicht krümmte, genau wie eine stramme Leine, auf die der Wind einwirkt.
Zugleich gierte der Kalte Schwarze Spiegel leicht um seine Hochachse und stellte sich in einen neuen Winkel, sodass er nun nicht mehr geradewegs auf die Oberfläche von Arbre hinabschaute, sondern fast unmerklich schräg geneigt war. Und das war auch schon alles. Wir standen jetzt ebenso gewiss unter Schub, wie wenn Jesry ein Raketentriebwerk gezündet hätte. Allerdings war dieser Schub zu gering, als dass unser Körper ihn spürte, und um irgendeinen Effekt zu haben, würde er tagelang auf uns wirken müssen.
Sobald das erledigt war, hatte ich einige Augenblicke lang Gelegenheit, über Arsibalts Worte nachzudenken. Selbst wenn man Jules’ und Jads Gesundheitsprobleme und meine Eskapade mit dem Reaktor berücksichtigte, musste man doch sagen, dass der Start und der Zusammenbau des Kalten Schwarzen Spiegels, das Zünden der Attrappe und das Ausbringen des Halteseils viel besser geklappt hatten, als wir es von Rechts wegen hätten erwarten dürfen. Niemand war tot oder auf rätselhafte Weise überhaupt nicht hier oben angekommen. Es hatte keine Unfälle gegeben – niemand war hilflos davongetrieben -, und wir hatten so viele Nutzlasten bergen können, wie wir brauchten. Da mir dies wie der offenkundig gefährlichste Teil der Reise erschienen war, hatte mich sein gutes Gelingen in allzu sonnige Stimmung versetzt. Aber zehn Sekunden Überlegung reichten aus, um deutlich zu machen, dass es sich um ein Selbstmordkommando handelte.
Kausalbereich: Eine Ansammlung von Dingen, die über ein Netz von Ursache-und-Wirkung-Beziehungen wechselseitig miteinander verbunden sind.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
Es entwickelten sich soziale Konventionen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass einige es vielleicht in den falschen Hals bekämen, wenn sich zwei oder drei von uns zu einem Privatgespräch zusammenstöpselten. Aber mir ging es nicht so, als ich bemerkte, wie Lio mit Osa oder Sammann mit Jules Verne Durand sprach, und bald wurde deutlich, dass jeder in der Zelle den anderen eine gewisse Privatsphäre zugestand. Sammann verlegte durch das Gerüst ein Netz
von Kabeln, an das alle sich anschließen konnten, wenn es erforderlich war, eine Zusammenkunft aller abzuhalten, und wir einigten uns darauf, dies alle acht Stunden zu tun. Die Spanne zwischen diesen Zusammenkünften war Freizeit. Jeder von uns versuchte, jede dritte dieser Zeitspannen zum Schlafen zu nutzen, aber das klappte nicht allzu gut. Ich dachte, ich wäre der Einzige, der Schwierigkeiten damit hatte, bis Arsibalt während einer solchen Ruhephase zu mir herüberschwebte und sich mit mir verband.
»Schläfst du, Raz?«
»Nicht mehr.«
»Hast du denn geschlafen?«
»Nein. Nicht richtig. Und du?«
Bis hierher war es Wort für Wort genauso gewesen wie die Gespräche, die wir damals mitten in der Nacht zu führen pflegten, als wir frisch zugelassene Fids gewesen waren, in unvertrauten Zellen gelegen und einzuschlafen versucht hatten. Nun allerdings nahm es eine andere Wendung. »Schwer zu sagen«, sagte Arsibalt. »Es kommt mir nicht so vor, als ob ich hier oben normale Schlaf- und Wachrhythmen durchlaufe. Ich kann offen gestanden nicht mehr zwischen Träumen und Wachen unterscheiden.«
»Wovon träumst du denn?«
»Davon, was alles hätte schiefgehen können …«
»Aber nicht schiefgegangen ist?«
»Genau, Raz.«
»Ich habe immer noch nicht die ganze Geschichte gehört, wie du Jad gerettet hast.«
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich sie überhaupt zusammenhängend erzählen könnte«, sagte er seufzend. »In meinen Gedanken existiert sie als ein Durcheinander von Augenblicken, in denen ich etwas gedacht oder getan habe – und jeder einzelne dieser Augenblicke, Raz, hätte auch anders ausgehen können. Und jeder dieser anderen Ausgänge wäre ein schlechter gewesen. Da bin ich mir ganz sicher. Ich gehe es immer wieder im Kopf durch. Und in jedem Fall habe ich zufällig das Richtige getan.«
»Tja, ein bisschen ist es so, als wäre hier das anthropische
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