Anathem: Roman
Experiment vor«, sagte Jesry. »Sammann, funktioniert es noch?«
»Aber ja. Fraa Jad hat nur den Sender zerstört. Die Synvor funktioniert noch immer so, als hätte sich nichts geändert.«
»Überwachst du im Augenblick die Warteschlange?«
»Natürlich.«
Jesry stöpselte sich ab und bedeutete mir, das Gleiche zu tun. Wir bildeten eine Privatverbindung. Jesry stürzte sich in einen sehr alten, abgedroschenen Dialog, den wir als Fids hatten auswendig lernen müssen: einen mündlichen Beweis, dass die Quadratwurzel von zwei eine irrationale Zahl ist. Ich gab mir alle Mühe, meinen Part auszufüllen. Als wir fertig waren, klinkten wir uns wieder ins
Retikel ein und warteten ein paar Sekunden. »Nichts«, sagte Sammann.
Wir stöpselten uns wieder ab und bildeten eine Zwei-Personen-Verbindung.
»Erinnerst du dich noch«, begann ich, »wie wir damals in Edhar nach dem Abendessen immer mit den anderen Inkantoren zusammengesessen und aus Maiskolben und Schnürsenkeln Allestöter gebastelt haben?«
»Natürlich«, sagte Jesry, »das waren richtig gute Allestöter, weil man damit ganz prima dreckige Zampanos um die Ecke bringen konnte.«
»Das wird uns sehr gelegen kommen, wenn wir Arbre an den Sockel verraten«, bemerkte ich.
In dieser Art unterhielten wir uns einige Minuten lang. Dann klinkten wir uns wieder ins Retikel ein. »Es gibt eine neue Datei«, verkündete Sammann, »an der Spitze der Warteschlange.«
»Okay«, verkündete ich, »die Zampanos sind also offenbar ganz versessen darauf zu erfahren, ob wir über bestimmte Dinge wie etwa die Allestöter reden.«
»Ha!«, rief Sammann aus. »Gerade ist eine neue Datei geöffnet worden, und sie wird größer, je länger … ich … weiterrede.«
Das Thema Allestöter war gegenüber der Gruppe als Ganzes noch nicht angeschnitten worden, und so hatten einige Leute eine Menge Fragen, die Lio abblockte. Unterdessen setzten Jesry und ich das begonnene Experiment fort, wobei wir die Verbindung zum Retikel in der folgenden halben Stunde ein paar Dutzend Mal unterbrachen und wiederherstellten. Nach jeder Unterbrechung probierten wir ein paar weitere Wörter aus, bloß um festzustellen, welche Themen das automatische Aufzeichnungssystem in Gang setzte. Dabei gingen wir aufs Geratewohl vor, waren aber dennoch imstande, einige weitere Auslösewörter zu ermitteln, darunter Angriff, Neutron, Massenmord, geisteskrank, Schande, unerhört,Weigerung und Meuterei.
Jedes Mal, wenn wir uns wieder einklinkten, hörten wir weitere Ideen für mögliche Auslösewörter, da das Gespräch sich ganz natürlich so entwickelte, dass alle oben angeführten Wörter und viele weitere häufig benutzt wurden. Bald ging es dabei äußerst emotional zu, und so war es in gewisser Weise gut, dass Jesry und ich uns immer wieder ausklinken und die Gesprächsinhalte als Gegenstand
theorischer Untersuchung behandeln konnten. Doch nach einer Weile wurde ein Punkt erreicht, an dem wir es für besser hielten, uns anzuschließen und angeschlossen zu bleiben.
Arsibalt hatte den Thalern gerade eine ziemlich bohrende Frage gestellt: Wem galt letzten Endes ihre Loyalität?
Fraa Osa antwortete: »Meinen Fraas und Suurs vom Klingenthal gegenüber empfinde ich eine Loyalität, die niemals aufgehoben werden kann, eben weil sie nichts Rationales ist, sondern ein Band, vergleichbar dem der Familie. Und ich werde keinen Sauerstoff vergeuden, indem ich mich über sämtliche einander einschließenden und überschneidenden Gruppen verbreite, denen ich Loyalität schulde: dieser Zelle, der mathischen Welt, der Konvox, den Menschen von Arbre und der sogar über die Grenzen dieses Kosmos hinausreichenden Gemeinschaft, die uns mit Jules Verne Durand und seinesgleichen verbindet.«
»Sä schüst«, antwortete der Laterraner, womit er unserer Vermutung nach seine Zustimmung ausdrückte.
»Sämtliche bestehenden Loyalitäten und Verpflichtungen mitten in einer Emergenz zu entwirren ist nicht möglich, und deshalb greift man auf einfache Reaktionen zurück, die sich aus der Ausbildung ergeben, die man durchlaufen hat.«
Mit dieser Vorstellung war Jules noch nicht in Berührung gekommen, und so ließ ihm Osa ein kurzes Tutorium über Emergenzologie angedeihen, wobei er als Beispiel den Entscheidungsbaum verwendete, den ein Schwertkämpfer durchlaufen muss, um bei einem Gefecht die jeweils richtige Bewegung zu machen. Es lag auf der Hand, dass so etwas viel zu komplex war, um sich während eines raschen Wechsels von
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