Anathem: Roman
erfasst, die jemand hineinwirft. Ich blickte hinunter in den dunklen Konzent und verspürte nicht den Wunsch zu springen. Schönheit zu sehen würde mich am Leben erhalten. Ich dachte an Cord und die Schönheit, die sie besaß, in den Dingen, die sie machte, in der Art, wie sie sich benahm, in den Emotionen, die über ihr Gesicht huschten, wenn sie nachdachte. Im Konzent lag Schönheit häufiger in irgendeinem theorischen Beweis – eine Art von Schönheit, die aktiv gesucht und entwickelt wurde. In unseren Gebäuden und unserer Musik war Schönheit immer präsent, selbst wenn ich sie nicht bemerkte. Orolo war da auf etwas gestoßen; wenn ich irgendeine dieser Arten von Schönheit sah, wusste ich, dass ich lebte, und zwar nicht nur in dem Sinne, in dem ich es wusste, wenn ich mir mit einem Hammer auf den Daumen schlug, sondern in dem Sinne, dass ich an etwas teilhatte – etwas ging durch mich hindurch, woran teilzuhaben in meinem Wesen lag. Das war ein guter Grund, nicht zu sterben, und zugleich ein Hinweis darauf, dass der Tod vielleicht nicht alles war. Ich wusste, dass ich dem Territorium der Deolatisten jetzt gefährlich nahe gekommen war. Aber weil Menschen so schön sein konnten, fiel es schwer, nicht zu glauben, dass es irgendetwas an ihnen gab, was aus jener anderen Welt kam, die Knous durch die Wolken gesehen hatte.
Orolo empfing mich mit seinen Aufzeichnungen unter dem Arm oben an der Treppe. Bevor wir uns an den Abstieg machten, warfen wir wie ein Butler, der die Löffel zählt, noch einen letzten Blick auf die Sterne und Planeten, die nach und nach aufgingen. Dann
gingen wir schweigend die Treppe hinunter, die wir mit unseren Kugeln beleuchteten.
Genau wie Fraa Orolo vorausgesagt hatte, wartete Fraa Gredick, der Schlüsselmeister, am Fallgatter. Eine andere, schlankere Person stand neben ihm. Als wir den Strebepfeiler hinunterkamen, sahen wir, dass es Gredicks Vorgesetzte war: Suur Trestanas. »Oje, sieht aus, als würden wir Buße bekommen«, murmelte ich. »Das zeigt genau, dass du recht hattest.«
»Womit?«
»Dass die Hässlichkeit von allen Seiten herbeikommt.«
»Ich glaube nicht, dass es das ist«, sagte Fraa Orolo. »Das ist etwas Außergewöhnliches.«
Wir gingen in die Steinkuppel hinunter und traten über die Schwelle. Hinter uns schlug Gredick mit etwas zu viel Wucht das Gatter zu. Ich schaute in sein Gesicht, weil ich dachte, er sei verärgert darüber, dass wir ihn hatten warten lassen. Aber so war es gar nicht. Er war unruhig. Er wollte nur fort. Wir alle sahen zu, wie er mit seinem Schlüsselring herumhantierte. Als er das Fallgatter abschloss, wanderte mein Blick nach Norden zur Kuppel der Unarier und dann nach Osten zu der der Zentenarier. Deren Gatter waren ebenfalls beide zu. Das ganze Ding schien geschlossen worden zu sein. Vielleicht eine Sicherheitsmaßnahme für die Apert?
Ich erwartete, dass Gredick ging, damit Suur Trestanas mich und Orolo ausschimpfen konnte. Doch Gredick schaute mir in die Augen und sagte: »Komm mit mir, Fid Erasmas.«
»Wohin?«, fragte ich. Es war ungewöhnlich, dass der Schlüsselmeister solch eine Bitte aussprach; das war nicht seine Aufgabe.
»Irgendwohin«, antwortete er und wies mit dem Kopf auf die Treppe, die uns nach unten führen würde.
Ich warf Orolo einen Blick zu, der die Achseln zuckte und dieselbe Kopfbewegung machte. Dann schaute ich Suur Trestanas an, die nur mit gespielter Geduld meinen Blick erwiderte. Sie war am Anfang ihres vierten Lebensjahrzehnts und nicht unattraktiv. Sie war aufgeweckt, gut strukturiert und selbstbewusst – die Art von Frau, die in der säkularen Welt vielleicht ins Geschäftsleben gegangen und in der Hierarchie eines Unternehmens aufgestiegen wäre. Während ihrer ersten Monate als Regelwartin hatte sie eine Menge Bußen für kleine Verstöße ausgesprochen, die ihr Vorgänger ignoriert hätte. Ältere Avot hatten mir versichert, ein solches Verhalten
sei typisch für eine neue Regelwartin. Ich war so sicher, dass sie mir und Orolo wegen unserer Verspätung eine Buße auferlegen würde, dass ich zögerte, zu gehen, ehe sie es getan hatte. Es war jedoch klar, dass sie zu einem anderen Zweck gekommen war. Also verabschiedete ich mich von Trestanas und Orolo und machte mich in Fraa Gredicks Gefolge an den weiteren Abstieg.
Als Trestanas fand, dass Gredick und ich weit genug weg waren, begann sie, Orolo mit gedämpfter Stimme etwas zu sagen. Sie sprach ungefähr eine Minute, als hielte sie eine kleine
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