Anathem: Roman
eine Saunt-Froga-Statue herum, schleuderte das Ende seiner Kulle von sich weg und ließ es über dem Kopf der Statue schweben, um es dann wie eine Peitsche zurückschnappen zu lassen. Wäre nicht Apert gewesen, hätte ich das nicht weiter beachtet. Doch es gab Besucher auf der Wiese, die ihm zuschauten, mit Fingern auf ihn zeigten, lachten und ihn spulocorderten. Eine weitere nützliche Funktion der Apert: daran erinnert zu werden, wie sonderbar wir waren und welches Glück wir hatten, an einem Ort zu leben, an dem wir uns das erlauben konnten.
Exponat A: Fraa Arsibalt. Er sprach in ganzen Absätzen, komplett mit Einleitungssätzen, in perfektem Mittelorth mit Fußnoten in Alt- und Protoorth, als er erklärte, dass er sich durch die Weigerung seines Vaters, mit ihm zu sprechen, gekränkt fühle, da er gar nicht so sehr dem Glauben seines Vaters abschwöre, sondern versuche, eine Brücke zwischen ihm und der mathischen Welt zu bauen.
Das schien mir für einen Neunzehnjährigen doch ein ehrgeiziges Projekt zu sein, siebentausend Jahre nachdem die beiden Töchter des Knous das letzte Wort miteinander gesprochen hatten. Dennoch ließ ich ihn ausreden. Teils, um Tulia später damit beeindrucken zu können, was für ein netter Kerl ich war. Teils, weil ich kein Lorit sein wollte. Teils aber auch, weil das, was Arsibalt da sagte, fast so verrückt war wie meine Diskussion mit Orolo am Abend zuvor. Und so würde er mich vielleicht, nachdem ich ihm zugehört hätte, ein paar meiner eigenen Gedanken äußern lassen. Doch mit Fortschreiten der Unterhaltung (falls man es überhaupt so nennen konnte, wenn man Arsibalt beim Reden zuhörte) schwand diese Hoffnung. Ihm war nicht in den Sinn gekommen, dass ich auch ein paar Dinge haben könnte, über die ich gerne sprechen würde – vielleicht nicht so klug oder folgenschwer wie das, was er im Kopf hatte, aber wichtig für mich. Ich wartete den richtigen Augenblick ab. Und gerade als ich eine Möglichkeit sah, wechselte er vollständig das Thema und überfiel mich hinterrücks mit einem Wortschwall über »die bezaubernde Cord«. So war ich, statt über das zu reden, was mich beschäftigte, gezwungen, mich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, dass Cord bezaubernd war. Er fragte sich, ob sie
wohl für eine atlanische Liaison offen wäre. Ich glaubte nicht, aber durfte ich mir ein Urteil erlauben? Und ein fester Freund, der (a) unfruchtbar war und (b) nur alle zehn Jahre raus durfte, schien ein ziemlich sicherer fester Freund zu sein, sodass ich die Achseln zuckte und einräumte, alles sei möglich.
Dann zurück zu Suur Tulia, um Bericht zu erstatten.
Siebzehn Jahre zuvor war Tulia, in Zeitungspapier gewickelt und in einer Kühlbox verstaut, deren Deckel abgerissen war, am Tagestor gefunden worden. Der Rest ihrer Nabelschnur war bereits abgefallen, was bedeutete, dass sie zu alt und zu sehr von der säkularen Welt affiziert war, um von den Tausendern aufgenommen zu werden. Am Anfang war sie ohnehin kränklich gewesen, und so hatte man sie im Unariermath behalten, der näher am Ärztekolleg lag. Dort war sie (meiner Vorstellung nach) von den sie abgöttisch liebenden Frauen und Töchtern der Burgher, die den Math bevölkerten, aufgezogen worden, bis sie mit sechs Jahren durch das Labyrinth graduiert war. Ganz allein war sie auf unserer Seite herausgekommen und hatte sich mit ernster Miene der ersten Suur vorgestellt, die ihr über den Weg lief. Jedenfalls hatte sie keine Familie draußen. Als sie sah, wie wir alle während der Apert versuchten, mit unseren Familien klarzukommen, begriff sie allmählich, welch großes Glück sie vielleicht hatte. Sie war zu klug, um etwas zu sagen, aber es war klar, dass sie dem Rest von uns die ganze Zeit kopfschüttelnd gegenübergestanden hatte. Sie hatte mich mit meiner Schwester plaudernd umherspazieren sehen und daraus geschlossen, dass für mich alles einfach und in bester Ordnung war. Ich spürte, dass es mir nichts nützen würde, wenn ich ihr zu erklären versuchte, was ich mit Orolo besprochen hatte.
Stattdessen sprach ich also mit Gruppen völlig Fremder von extramuros, die herkamen, um sich im Unariermath umzuschauen.
Mein Math war klein, einfach und ruhig. Der Unariermath dagegen war gebaut worden, um Leute zu beeindrucken, die von draußen kamen: zehn Tage im Jahr Touristengruppen von extramuros, und für den Rest der Zeit jene, die gelobt hatten, wenigstens ein Jahr in ihm zu verbringen. Von ihnen graduierten wenige zum
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