Anathem: Roman
verrückt.«
»Es steht mehr auf dem Spiel, als ein Junge in deinem Alter begreifen kann. Deine Naivität – gepaart mit deiner Weigerung zuzugeben, wie naiv du bist – setzt uns alle Risiken aus. Ich verurteile dich zum Buch.«
»Nein!« Ich konnte es nicht glauben.
»Kapitel eins bis … äh … oh … fünf .«
»Du machst wohl Witze!«
»Ich glaube, du weißt, was du zu tun hast«, sagte sie und schaute über die Wiese hinweg zum Mynster.
»Gut. Gut. Kapitel eins bis fünf«, wiederholte ich, während ich mich dem Baldachin zuwandte.
»Stehen geblieben«, sagte Suur Trestanas.
Ich blieb stehen.
»Das Mynster liegt in dieser Richtung«, sagte sie und klang belustigt. »Du scheinst die falsche Richtung einzuschlagen.«
»Meine Blutsverwandte und mein Cousin sind da drin. Ich muss nur hingehen und ihnen erklären, dass ich fortmuss.«
»Das Mynster«, wiederholte sie, »liegt in dieser Richtung.«
»Fünf Kapitel schaffe ich nicht bis Sonnenaufgang«, argumentierte ich. »Wenn ich wieder aus dieser Zelle komme, werden die Tore geschlossen sein. Ich muss mich von meiner Familie verabschieden.«
»Du musst ? Sonderbare Wortwahl. Lass mich dich auf den neuesten Stand der Semantik bringen; du, der du die Hyläa verehrst, bist doch so versessen auf solche Dinge. Du musst zum Mynster gehen. Du willst dich von deiner Familie verabschieden. Der ganze Sinn des Fraaseins besteht darin, frei zu sein von diesem Wollen , das Menschen extramuros zu Sklaven macht. Ich tue dir den Gefallen, dich jetzt, in diesem Augenblick, zu einer Entscheidung zu zwingen. Wenn du deine Familie unbedingt sehen willst, geh zu ihr – und
dann gleich weiter zum Tor hinaus, und komm nie wieder. Wenn du aber vorhast zu bleiben, musst du jetzt auf direktem Weg zum Mynster gehen.«
Ich hielt nach Lio Ausschau, weil ich hoffte, er könnte Cord und Darth eine Nachricht bringen, aber er war schon ein Stück entfernt und berichtete gerade Delrakhones von dem Kampf; und überhaupt wollte ich Suur Trestanas nicht das zusätzliche Vergnügen bereiten, mir zu sagen, ich dürfe nicht mit ihm sprechen.
So wandte ich dem, was von meiner Familie übrig war, den Rücken zu und machte mich auf den Weg zum Mynster.
Teil 3
ELIKT
L angeweile ist eine Maske der Frustration. Was gab es für einen besseren Platz, um die Wahrheit von Fraa Orolos Ausspruch zu kosten, als eine Bußzelle der Regelwartin? Irgendein schlauer Architekt hatte diese Dinger so entworfen, dass sie für die Frustration dasselbe waren wie eine Linse für das Licht. Meine Zelle hatte keine Tür. Alles, was zwischen mir und der Freiheit stand, war ein schmaler, wie die Spitzbögen des Alten Mathischen Zeitalters geformter Bogen, der von massiven, durch die Kritzeleien früherer Insassen völlig verschrammten Steinen eingerahmt war. Mir war es untersagt, mich dort hinaus zu verirren oder Besucher zu empfangen, solange die Strafe nicht verbüßt war. Der Bogen öffnete sich auf den inneren Laufgang, der rund um den Regelwarthof lief und zu jeder Tageszeit von unbedeutenderen Hierarchen bevölkert war, die auf dem einen oder anderen Botengang vorbeikamen. Ich konnte direkt über diesen Laufgang hinweg in das Gewölbe des oberen Chorraums sehen. Dessen Brüstung versperrte mir jedoch den Blick auf den zweihundert Fuß weiter unten liegenden Boden, wo gerade die Provene begangen wurde. Ich konnte die Musik hören. Ich konnte geradeaus schauen und sehen, wie die Kette sich bewegte, als meine Mannschaft die Uhr aufzog, und wie die Glockenseile tanzten, als Tulias Mannschaft die Glocken im Wechsel läutete. Die Menschen konnte ich jedoch nicht sehen.
Auf der anderen Seite der Zelle hatte ich eine bessere Aussicht. Von einem weiteren mathischen Bogen eingerahmt bot ein Fenster einen schönen Ausblick auf die Wiese. Das war auch so ein Mittel, um die Frustration und mithin die Langeweile zu verstärken, denn wenn ich wollte, konnte ich den ganzen Tag meinen Brüdern und Schwestern zuschauen, wie sie nach Belieben im Konzent umherspazierten und (wie ich vermutete) über alle möglichen interessanten Dinge diskutierten oder sich zumindest lustige Geschichten erzählten. Oben war der größte Teil des Himmels durch
das überhängende Gesims des Wehrwarts verdeckt, aber bis etwa zwanzig Grad über dem Horizont konnte ich sehen. Mein Fenster ging ziemlich genau auf das Jahrhunderttor hinaus, mit Blick auf das Jahrzehnttor rechts davon, wenn ich mein Gesicht nah ans Glas hielt. So konnte ich, als
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