Anathem: Roman
dich.«
»In Ordnung«, sagte ich, »entschuldige, aber ich habe dich immer für einen Menschen gehalten, mit dem man über solche Gefühle reden kann …«
»Glaubst du, ich will für den Rest meines Lebens dieser Mensch sein? Für jeden im Konzent?«
»Offensichtlich nicht.«
»Stimmt. Das war’s wohl. Du suchst jetzt Haligastreme. Und ich Korlandin. Wir sagen ihnen, dass wir morgen ihrem jeweiligen Orden beitreten.«
»Gut«, sagte ich mit einem gespielt lässigen Achselzucken und machte kehrt, um zu der Brücke zurückzugehen. Tulia holte mich ein und fiel neben mir in gleichen Tritt. Ich schwieg eine Weile – etwas zerstreut durch die Aussicht, mich einem Kapitel anzuschließen, das mich nicht wollte und von dessen Mitgliedern viele mir vorwerfen würden, Tulia den Platz weggenommen zu haben.
Ein Teil von mir wollte Tulia dafür hassen, dass sie so hart mit mir ins Gericht gegangen war. Doch als wir die Brücke überschritten hatten, war diese Stimme glücklicherweise zum Verstummen gebracht worden. In Zukunft sollte ich sie noch dann und wann hören, aber ich würde mich nach Kräften bemühen, sie zu ignorieren. Ich hatte fürchterliche Angst davor, unter diesen Umständen den Edhariern beizutreten. Aber mich vorwärtszukämpfen und es einfach zu tun, ohne mich auf Tulias oder sonst jemandes Schulter zu stützen, fühlte sich besser – fühlte sich richtig an. So wie wenn man weiß, dass man mit einem theorischen Beweis auf dem richtigen Weg ist und der Rest nur noch aus Detailfragen besteht. Ein Splitter der Schönheit, von der Orolo gesprochen hatte, streckte sich durch die Dunkelheit zu mir aus, und ich würde ihm wie einer Straße folgen.
»Möchtest du mit Orolo sprechen?«, lautete Fraa Haligastremes Frage, nachdem ich ihm die Nachricht überbracht hatte. Er war nicht überrascht. Er war nicht aus dem Häuschen. Er war nichts außer müde. Schon der Anblick seines Gesichts im Kerzenschein des alten Kapitelhauses sagte mir, wie anstrengend die vergangenen Wochen für ihn gewesen waren.
Ich dachte darüber nach. Mit Orolo zu sprechen, erschien mir so naheliegend, und dennoch hatte ich noch keinen Versuch unternommen, es zu tun. Angesichts dessen, wie das Gespräch mit Tulia verlaufen war, hatte ich keine große Lust mehr, die halbe Nacht aufzubleiben und den Leuten von meinen Gefühlen zu erzählen.
»Wo ist er?«
»Ich glaube, er ist mit Jesry auf der Wiese und führt Beobachtungen mit bloßem Auge durch.«
»Dann sollte ich sie besser nicht stören«, sagte ich.
Haligastreme schien Energie aus meinen Worten zu ziehen. Der Fid fängt an, seinem Alter gemäß zu handeln. »Tulia scheint zu glauben, dass er mich … hier haben will«, sagte ich und schaute mich im alten Kapitelhaus um: nur eine erweiterte Stelle im Wandelgang des Klostrums, selten benutzt außer zu feierlichen Anlässen – aber immer noch das Herzstück des weltweiten Ordens, wo Saunt Edhar selbst einst auf und ab schreitend seine Theorik entwickelt hatte.
»Tulia hat recht«, sagte Haligastreme.
»Dann will ich auch hier sein, selbst wenn die Begrüßung lauwarm ist.«
»Wenn es dir so erscheint, dann geschieht es hauptsächlich aus Sorge um dein eigenes Wohlergehen«, sagte er.
»Ich weiß nicht, ob ich das glauben kann.«
»Gut«, sagte er, leicht gereizt, »vielleicht wollen manche dich aus anderen Gründen nicht hier haben. Du hast das Wort lauwarm benutzt, nicht kühl oder feindselig . Ich beziehe mich jetzt nur auf diejenigen, die lauwarm sind.«
»Bist du einer davon?«
»Ja. Wir, die Lauwarmen, machen uns Sorgen …«
»Dass ich nicht werde Schritt halten können.«
»Genau.«
»Nun, selbst wenn sich das als richtig erweisen sollte, kannst du jederzeit zu mir kommen, wenn du ein paar Stellen von pi brauchst.«
Aus reiner Höflichkeit gluckste Haligastreme.
»Schau«, sagte ich, »ich weiß, dass du dir darüber Sorgen machst. Ich werde es hinkriegen. Das schulde ich Arsibalt, Lio und Tulia.«
»Wieso?«
»Sie haben etwas geopfert, damit der Konzent in Zukunft besser funktioniert. Vielleicht mit dem Ergebnis, dass die nächste Generation von Hierarchen besser sein wird als das, was wir jetzt haben – und die Edharier in Ruhe arbeiten lassen wird.«
»Falls das Hierarchendasein«, sagte Fraa Haligastreme, »sie nicht verändert.«
Teil 4
ANATHEM
S echs Wochen nachdem ich dem Edharierorden beigetreten war, verrannte ich mich hoffnungslos bei der Lösung eines Problems, das einer von Orolos
Weitere Kostenlose Bücher