Anathem: Roman
erklärte, warum die, die sich auf der falschen Seite dieser Mauer wiedergefunden hatten, am Ende die Nase vollgehabt und mit der Stammlinie gebrochen hatten. Die Mauer niederzureißen war zu viel Aufwand, und so hatte man diese Arbeit den Ameisen und dem Efeu überlassen. Die Reformierten Alten Faanier hatten sich in jüngerer Zeit angewöhnt, dieses Gelände als Rückzugsort zu benutzen, und da niemand Einwände dagegen erhob, hatten sie begonnen, sich dort gemütlicher einzurichten.
Gardans Waage: Eine Fraa Gardan (-1110 – -1063) zugeschriebene Faustregel, die besagt, dass man zwei Hypothesen, die man vergleichen will, auf den Balken einer metaphorischen Wiegevorrichtung (einer einfachen Waage, die aus einem sich frei um einen Drehpunkt bewegenden Balken besteht) legen und diejenige bevorzugen sollte, die »höher steigt«, wahrscheinlich weil sie weniger wiegt, was darauf hinausläuft, dass einfachere, »leichtgewichtigere« Hypothesen jenen vorzuziehen sind, die »schwerer«, das heißt komplexer sind. Auch Saunt Gardans Waage oder einfach die Waage genannt.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
Sehr gemütlich, wie mir klar wurde, als ich die Stufen hinaufstieg und die Tür aufstieß (wobei ich erneut gegen das Gefühl ankämpfte, ein Eindringling zu sein). Die RAF-Zimmerleute hatten die steinerne Hülle mit Holzböden und Wandtäfelungen möbliert. Eigentlich war für Avot, die die Holzbearbeitung zu ihrer Nebenbeschäftigung machten, »Kunstschreiner« eine angemessenere Bezeichnung als »Zimmermann«, und daher war hier alles mit Toleranzen eingepasst und zusammengefügt, die Cord vielleicht mit Neid erfüllt hätten. Im Wesentlichen war es ein großer kubischer Raum, zehn Schritt im Quadrat und mit Büchern ausgekleidet. Rechts von mir brannte ein Feuer im Kamin, links strömte helles Tageslicht von Norden her durch ein Erkerfenster von solchen Ausmaßen, dass es schon
eine Art Alkoven bildete, weit, rund und gemütlich wie Arsibalt, der mittendrin saß und ein so altes Buch las, dass er die Seiten mit einer Zange umblättern musste. Er hatte mich also doch nicht auf den Baum klettern sehen, und ich hätte mich davonschleichen können. Aber ich war froh, es nicht getan zu haben. Es tat gut, ihn hier zu sehen.
»Du könntest Shuf persönlich sein«, sagte ich.
»Psst«, gebot er und blickte sich in dem Raum um. »Die Leute werden es dir übel nehmen, wenn du so redest. Alle Orden haben doch ihre besonderen Refugien. Inseln des Luxus, bei denen Saunt Kartas sich in ihrem Chalzedonsarg umdrehen würde, wenn sie davon wüsste.«
»Ganz schön luxuriös, hier, wenn ich es mir recht überlege …«
»Jetzt mach mal halblang, im Winter ist es höllisch kalt.«
»Daher auch der Ausdruck ›kalt wie Kartas‹ …«
»Psst«, sagte er wieder.
»Weißt du, Arsibalt, wenn das Edharierkapitel ein Luxusrefugium hat, haben sie es mir noch nicht gezeigt.«
»Sie gehören nicht dazu«, sagte er und verdrehte die Augen. Er musterte mich von Kopf bis Fuß. »Vielleicht, wenn du ein höheres Alter erreicht hast …«
»Aber was bist denn du, im Alter von neunzehn? Der EUG der Reformierten Alten Faanier?«
»Das Kapitel und ich fühlen uns tatsächlich nach kurzer Zeit schon ausgesprochen wohl miteinander. Sie unterstützen mein Projekt.«
»Was – unsere Versöhnung mit den Deolatisten?«
»Manche der Reformierten Alten Faanier glauben sogar an Gott.«
»Du auch, Arsibalt? Schon gut, schon gut«, fügte ich hinzu, denn er schickte sich an, mich zum dritten Mal zum Schweigen zu bringen. Schließlich stand er auf und machte eine kleine Führung mit mir, bei der er mir einige der Artefakte aus den glücklichen Tagen des Dotats zeigte: goldene Trinkbecher und mit Edelsteinen besetzte Buchumschläge, die jetzt unter Glas aufbewahrt wurden. Ich bezichtigte seinen Orden, irgendwo noch mehr davon versteckt zu haben, um daraus zu trinken, worauf er errötete.
Da das Reden über Küchengeschirr ihn an Essen erinnerte, stellte er sein Buch ins Regal zurück. Wir ließen Shufs Dotat hinter uns und machten uns auf den Rückweg zum Mittagessen. Wir hatten
beide die Provene ausgelassen, ein Luxus, der nur möglich war, weil seit kurzem ein paar jüngere Fraas an ein paar Tagen in der Woche beim Uhraufziehen für uns einsprangen.
Wenn wir das Uhraufziehen ganz aufgeben würden, was in zwei oder drei Jahren passieren würde, hätte jeder von uns genug Zeit, eine Nebenbeschäftigung aufzunehmen – etwas Praktisches, das
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