Anathem: Roman
Gefolgsmännern mir aufgegeben hatte, um mir klarzumachen, dass ich im Grunde nicht verstand, was es hieß, wenn zwei Hyperflächen sich berührten. Ich ging einen Spaziergang machen. Ohne nachzudenken, überquerte ich den zugefrorenen Fluss und wanderte in das Seitenbaumwäldchen, das auf der Anhöhe zwischen dem Jahrzehnt- und dem Jahrhunderttor wuchs.
Trotz aller Anstrengungen der Sequenzer, die diese Bäume erschaffen hatten, war nur jedes zehnte Blatt hochwertiges Seitenmaterial und für ein typisches Buch im Quartformat geeignet. Die häufigsten Mängel waren unzureichende Größe und Unregelmäßigkeit, sodass die Blätter, wenn sie in den Schneiderahmen gelegt wurden, kein Rechteck bildeten. Das traf auf etwa vier von zehn Blättern zu – mehr in kalten oder trockenen Jahren, weniger, wenn die Wachstumsperiode günstig gewesen war. Von Insekten genagte Löcher oder dicke Maserungen, die das Schreiben auf der Unterseite erschwerten, konnten ein Blatt außer zum Kompostieren unbrauchbar machen. Diese Mängel traten besonders häufig bei Blättern auf, die in Bodennähe wuchsen. Den besten Ertrag gab es an den mittleren Zweigen, in nicht allzu großer Entfernung vom Stamm. Die Arboritekten hatten den Bäumen im mittleren Bereich kräftige Äste gegeben, auf die Kinder mühelos hinaufklettern konnten. Als ich noch ein Fid gewesen war, hatte ich jeden Herbst eine Woche auf diesen Ästen zugebracht, die besten Blätter gepflückt und zu älteren Avot hinuntergleiten lassen, die sie in Körben stapelten. Am späteren Nachmittag hatten wir sie mit den Stielen an Leinen gebunden, die von Baum zu Baum reichten, und sie in abnehmenden Temperaturen trocknen lassen. Nach dem ersten beißenden Frost brachten wir sie nach drinnen, stapelten sie und häuften tonnenweise
flache Steine darauf. Sie brauchten ungefähr hundert Jahre, um ordentlich zu altern. Nachdem wir also die Ernte des laufenden Jahres unter Stein gebracht hatten, gingen wir zurück zu ähnlichen Steinhaufen, die ungefähr hundert Jahre zuvor errichtet worden waren, und wenn sie fertig zu sein schienen, nahmen wir die Steine ab und lösten die Blätter voneinander. Die guten stapelten wir in die Schneiderahmen und machten daraus leere Seiten zur Verteilung innerhalb des Konzents oder zum Bücherbinden.
Nach der Ernte war ich nur selten in den Buschwald gegangen. Wenn man in dieser Jahreszeit hindurchspazierte, wurde man daran erinnert, dass wir nur einen kleinen Teil seines Laubes sammelten. Der Rest rollte sich zusammen und fiel ab. All diese leeren Seiten machten einen Heidenlärm, als ich auf der Suche nach einem besonders großen Baum, auf den ich immer gerne geklettert war, durch sie hindurchwatete. Meine Erinnerung spielte mir einen Streich, und ich wanderte ein paar Minuten ratlos umher. Als ich ihn endlich fand, konnte ich der Versuchung, auf seine unteren Äste zu klettern, nicht widerstehen. Als kleiner Junge hatte ich mir dabei immer vorgestellt, ich wäre tief in einem großen Wald, was viel romantischer war als, umgeben von Casinos und Reifenhandlungen, in einem ummauerten Math zu sein. Doch jetzt mit den nackten Ästen war offenkundig, dass ich mich nicht weit vom östlichen Rand des Wäldchens befand. Die efeuumrankte Ruine von Shufs Dotat lag in Sichtweite. Bei dem Gedanken, dass Arsibalt mich von einem Fenster aus gesehen haben musste, kam ich mir töricht vor, und so ließ ich mich zu Boden gleiten und marschierte in diese Richtung los. Arsibalt verbrachte seine Tage jetzt meistens dort. Er hatte mich bedrängt, ihn hier draußen zu besuchen, und ich hatte immer andere Entschuldigungen gefunden. Jetzt konnte ich mich nicht davonschleichen.
Ich musste eine niedrige, das Wäldchen begrenzende Hecke überwinden. Als ich das wirre Laub vor mir beiseiteschob, spürte ich kalten Stein an der Hand und kurz darauf einen Schmerz. Es war tatsächlich eine Steinmauer, die für alles, was auf ihr wachsen wollte, zum Rankgitter geworden war. Nachdem ich mit einem Satz hinübergesprungen war, brauchte ich eine Weile, bis ich meine Kulle und die Kord aus den Heckenpflanzen befreit hatte. Ich stand auf irgendjemandes Strüpp, das jetzt braun und ausgedörrt war. Dort, wo Leute die letzten Kartoffeln der Saison ausgegraben hatten,
war der schwarze Boden zerfurcht. Über die Mauer zu springen, gab mir das Gefühl, widerrechtlich hier zu sein. Genau solche Gefühle hatte Shufs Stammlinie mit dem Bau dieser Mauer damals vermutlich wecken wollen. Und das
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