Anatomie
Bücherwurm, der die Library of Congress durchkämmte. In diesen Skeletten waren Hunderte von Geschichten niedergeschrieben – Geschichten über Fahrradunfälle in Kindertagen, Schädelverletzungen bei Kneipenschlägereien, jahrelange häusliche Gewalt, Jahrzehnte des allmählichen Siechtums. Um eine einzelne Geschichte zu hören, musste ich nur den Karton vom Regal holen, ihn auf einen Tisch stellen, den Deckel abnehmen und die Knochen herausholen. Einige Geschichten waren in die schaurigen Einzelheiten von gebrochenen Gliedern, gerissenen Rippen und eingeschlagenen oder von Kugeln durchschossenen Schädeln eingeschrieben. Andere waren bewusst zurückhaltend dargestellt, wie die kräftigen Knochen eines Schwarzen aus dem neunzehnten Jahrhundert, dessen Arme, Beine und deutlich ausgebildete Muskelansatzpunkte von einem Leben voll harter körperlicher Arbeit zeugten.
Ich zog zwei Kartons aus den Regalen – alte Freunde gewissermaßen, die mir im Laufe der Jahre geholfen hatten, Tausende von Studierenden zu unterrichten – und holte einige Knochen heraus. Ihre breiten Oberflächen waren von der Berührung unzähliger Hände glatt wie Elfenbein; und als ich sie in die Hand nahm, waren sie vertraut und tröstlich, diese Teile der Toten.
Ich klinkte die abgewetzte Aktentasche auf, die in der Knochensammlung stand, bettete die Knochen auf die graue Schaumstoffpolsterung und schloss die Tasche wieder. Dann ging ich die hintere Treppe hinunter und kam neben dem Tunnel heraus, der zur Endzone führt. Ich suchte mir meinen Weg durch ein Labyrinth von Betonrampen und -treppen und stand am Ende nahe der Rückseite des McClung-Museums, eines klotzigen Gebäudes aus den 1960er Jahren, das die bescheidene Sammlung Indianer-Artefakte der Universität beherbergte.
Zweihundertsiebzig Köpfe wandten sich mir zu, als ich durch die Tür an einer Seite des Hörsaals im McClung-Museum trat. Meine Einführungsvorlesung – Anthropologie für Anfänger: Der Ursprung des Menschen – war die einzige Vorlesung des anthropologischen Instituts, die nicht in dem Labyrinth von Räumen unter dem Neyland-Stadion abgehalten wurde; unter den Tribünen war einfach nicht genug Platz. In den wenigen Büros des Museums war früher, als es nur drei Professoren der Anthropologie gab, das ganze Institut untergekommen, heute arbeiteten dort nur noch Mitarbeiter des Museums. Im McClung-Museum war es die meiste Zeit ruhig, es zog nur wenige Besucher an, doch an drei Vormittagen die Woche summte es vom Geplauder und vom Lachen der Erst- und Zweitsemesterstudenten.
Die meisten Einführungsvorlesungen wurden von jüngeren Fakultätsmitgliedern oder sogar Lehrassistenten gehalten; ich war in der Tat der einzige Institutsleiter, den ich kannte, der noch eine Einführungsvorlesung hielt. Kollegen sagte ich immer, ich fände es wichtig, den Kontakt zu den Studierenden nicht zu verlieren, und das war wahr. Auch wahr war jedoch die Tatsache, dass ich es gerne erlebte, wenn Studierende anfingen, sich für ein neues Thema zu begeistern. Für mein Thema. Und vielleicht – qua Verlängerung – auch ein ganz klein wenig für mich.
Natürlich war diese Begeisterung nicht romantischer oder gar sexueller Natur. Ich hatte mich noch nie mit einer Studentin eingelassen, obwohl es gelegentlich beträchtliche Willenskraft erforderte, nicht der Verlockung nachzugeben. Während einer unvergesslichen Vorlesung in der Zeit des Minirock-Revivals war ich zur linken Seite des Hörsaals gewandert, um das eine oder andere Detail der Struktur des Beckens zu erklären. Zum ersten Mal in meiner Karriere als Lehrender war ich bei dem Thema vorübergehend sprachlos. Eine attraktive junge Studentin in der ersten Bankreihe löste genau in diesem Augenblick direkt vor mir ihre verschränkten Beine, um ein Bein träge über die Tischplatte zu schieben. Als der Rock ihr über die strammen Oberschenkel und das makellose Becken nach oben glitt, war deutlich zu sehen, dass sie darunter nichts trug. Erstaunlicherweise schaute ich ihr ins Gesicht; sie neigte den Kopf, zog eine Augenbraue hoch und lächelte süß. Ich zog mich hastig auf die andere Seite des Auditoriums zurück und kämpfte mannhaft darum, meinen Satz, meine Vorlesung und meine Fassung zu wahren. Wenige Tage später erschien diese Studentin in meinem Büro – es war die Mitte des Semesters, und ich hatte gerade die Noten ausgehängt; sie hatte ein wenig erfreuliches F erhalten. Mit zitternder Unterlippe lehnte sie sich in einer
Weitere Kostenlose Bücher