Anatomie
tief ausgeschnittenen Bluse über den Tisch. »Oh, Dr. Brockton, ich tue alles, um meine Note zu verbessern«, hauchte sie.
»Dann lernen Sie«, fuhr ich sie an. Drei Jahre später gab sie das Studium auf, aber erst, nachdem sie in einer Klausur über Hand- und Armknochen »Humerus« als »etwas, das einen zum Lachen bringt« definiert hatte.
Zufällig ging es in der heutigen Vorlesung – genau wie an dem Tag des rutschenden Minirocks – um das Becken. Das schien zu passen, da ich gerade das Becken der Frauenleiche untersucht hatte, die wir in der Höhle gefunden hatten. Als Lehrmittel hatte ich aus der Skelettsammlung zwei Becken mitgebracht, ein männliches und ein weibliches. Mit rotem Dentalwachs als provisorischem Klebemittel verband ich das Schambein wieder mit dem Os coxae, dem Hüftbein, und hielt die Knochen dann in die Höhe, erst die männlichen, dann die weiblichen. »Okay, ich habe bemerkt, dass einige von Ihnen aufmerksam das Becken Ihrer Studienkolleginnen und -kollegen studieren. Ich gehe also davon aus, dass Sie keine Probleme haben, die Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Becken zu erkennen.«
Ein Lachen ging durch den Saal – ein guter Anfang. »Welches ist das weibliche Becken, Nummer eins oder Nummer zwei?«
»Nummer zwei«, rief eine Handvoll Stimmen im Chor.
»Sehr gut. Woher wissen Sie das?«
»Es ist breiter«, zwitscherte ein Mädchen.
»Und süßer«, fügte ein Junge hinzu.
»Die Knochen stehen vorne weiter vor«, sagte jemand.
»Das ist richtig, das Schambein ragt weiter vor«, sagte ich. »Warum ist das so?«
»Schwangerschaft?«
»Richtig, um Platz für das Baby zu schaffen«, sagte ich, »nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch und besonders während der Geburt.« Ich drehte das Becken um neunzig Grad nach hinten, um ihnen den Geburtshelfer-Blick auf die Knochen zu gewähren, die den Geburtskanal einrahmten. »Sehen Sie die Größe dieser Öffnung? Dort muss bei der Geburt der Kopf des Kindes durchpassen. Vergleichen Sie das mit dem männlichen Becken.« Ich hielt das engere Becken in derselben Position hoch. »Ist hier jemand, der glaubt, da hindurch könnte er ein Baby gebären? Dann hoffen Sie besser, dass Sie nie in die Verlegenheit kommen!« Ich hörte leises Gemurmel. »Autsch, Mann.«
Als Nächstes zeigte ich ihnen die weibliche Sitzbeinkerbe – die Einbuchtung direkt hinter dem Hüftgelenk, wo der Ischiasnerv aus der Wirbelsäule austritt und das Bein hinunterläuft. »Sehen Sie hier einen Unterschied?«
»Breiter.« – »Größer.«
»Ganz richtig. Und ein weiterer Tribut an das Kinderkriegen: Wenn die weiblichen Hüftbeine sich in der Pubertät verbreitern, wird diese Kerbe breiter. Sehen Sie, ich kann leicht zwei Finger in diese Kerbe legen, in die Sitzbeinkerbe des männlichen Beckens aber nur einen. Wenn Sie also in zehn Jahren an einem forensischen Fall arbeiten, und ein Jäger oder ein Polizist bringt Ihnen nichts anderes als ein einzelnes Hüftbein, dann können Sie sofort sagen, ob es von einem Mann oder von einer Frau stammt.«
Eine der jungen Frauen vorne – Sarah Carmichael, dem Sitzplan zufolge; sie trug vernünftige Kleidung und stellte vernünftige Fragen – sagte: »Aber wenn diese Veränderungen während der Pubertät stattfinden, wie kann man dann das Geschlecht eines Kinderskeletts bestimmen?«
»Gute Frage, Miss Carmichael. Die Antwort lautet: Das kann man nicht. Vor der Pubertät gibt es keine zuverlässige Methode, zwischen weiblichen und männlichen Knochen zu unterscheiden. Alles, was man tun kann, ist zu bestimmen, ob die Knochen, die man gefunden hat, die entsprechende Größe für einen Jungen oder für ein Mädchen eines bestimmten Alters haben.«
Die meisten sahen mich verdutzt an, also griff ich zu einem Beispiel. »Als ich die Knochen untersuchte, die im Entführungsfall Lindbergh geborgen wurden«, einige Köpfe nickten, doch in etlichen Gesichtern stand das blanke Nichtwissen, »konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es die Knochen eines Jungen oder eines Mädchens waren. Alles, was ich sagen konnte, war, dass sie den Knochen eines zwölf Monate alten Jungen entsprachen – und so alt war Charles Lindbergh junior, als er entführt und umgebracht wurde. Doch die Knochen hätten auch von einem vierundzwanzig Monate alten Mädchen stammen können.«
Sarah hob noch einmal die Hand. »Konnten Sie in dem Fall an den Knochen nicht einen DNA-Test machen und das Ergebnis mit dem der Eltern
Weitere Kostenlose Bücher