Anatomie
meldete.
»Hallo, hier spricht Dr. Brockton.«
»Sheriff Kitchings.«
»Hallo, Sheriff, ich habe mich eine ganze Weile mit diesen Überresten beschäftigt, und ich habe Ihnen ein paar mächtig interessante Dinge zu erzählen. Zuallererst …«
Er unterbrach mich. »Augenblick, Doc. Ich weiß nicht recht, ob wir das wirklich am Telefon besprechen sollten. Das könnte sich als sehr sensibler Fall erweisen.«
Das war neu. Ich fasste meine Ergebnisse immer in einem offiziellen Bericht zusammen, aber mir war noch nie ein Gesetzeshüter über den Weg gelaufen, der nicht so schnell wie möglich wissen wollte, was ich herausgefunden hatte. »Soll ich einfach aufschreiben, was ich gefunden haben, und es Ihnen schicken?«
»Nein, Sir, ich glaube, wir sollten doch ein wenig zügiger vorgehen. Könnte ich Williams noch einmal schicken, um Sie abzuholen? Und könnten Sie das, ähm, Material mitbringen? Das Material, das Sie da in Knoxville haben?«
Ich seufzte, beschloss aber, mich auf das Spiel einzulassen. »Also, ich kann natürlich zu Ihnen kommen, wenn Sie denken, dass es dringend ist, aber das, ähm, Material kann ich unmöglich schon mitbringen. Ich muss es noch ein oder zwei Tage kochen, falls Sie mich im Wesentlichen verstehen.« Nach einem Augenblick bedeutete er mir, dass er mich tatsächlich verstanden hatte. »Schauen Sie«, schlug ich vor, »ich muss in ein paar Minuten eine Vorlesung halten, aber am Mittag bin ich fertig, wenn Sie Ihren Deputy dann irgendwann schicken wollen.«
»Besteht die Chance, dass Sie diese Vorlesung ausfallen lassen? Kann die jemand anders für Sie halten?«
»Tut mir leid, Sheriff. Ich lasse meine Vorlesungen nicht ausfallen. Abgesehen davon ist es hier runter mindestens eine Stunde Fahrt.«
»Die Sache ist nur, dass Williams schon in Knoxville ist.« Die mussten doch denken, ich hätte nichts Besseres zu tun, als darauf zu warten, nach Cooke County expediert zu werden.
»Nun, ich finde sicher etwas, womit ich ihn eine Stunde oder so beschäftigen kann«, sagte ich. »Falls er uns auf der Body Farm zur Hand gehen möchte, hätten wir da ein paar Skelette, die ausgegraben werden müssten. Er weiß ja jetzt, wie er hinfindet.«
Der Sheriff lachte freudlos. »Da würde er vermutlich bald passen, aber trotzdem danke. Ich ruf ihn an und sag ihm, er soll Sie um zwölf abholen.«
Ich erklärte ihm, wo er mein Büro fand, tief unter den östlichen Rängen des Stadions verborgen, etwa auf Höhe des Footballfelds. Eigentlich lag es ganz nah an der östlichen Endzone, war aber davon getrennt durch Schichten aus Beton, Stahl und Zuschauern. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft ich von einem Schädel oder Oberschenkelknochen aufgeblickt hatte, wenn das ganze Gebäude erzitterte – ein Touchdown für die Tennessee Volunteers, das Footballteam der University of Tennessee. Auswärtige Mannschaften erzielten im Neyland-Stadion nur selten Punkte, und wenn, dann waren nicht genug Fans da, um die Stahlträger zum Beben zu bringen. Zehn- oder zwanzigtausend Menschen konnten keine nennenswerten Vibrationen auslösen. Neunzigtausend einheimische Fans allerdings konnten bei einem hart umkämpften Spiel gegen Georgia, Florida oder Alabama durchaus dafür sorgen, dass noch drüben in Nashville die Seismographen ausschlugen.
Ich legte auf, drückte mich von meinem ramponierten Tisch ab und ging durch eine Tür in einen angrenzenden Raum voller Pappkartons, die alle 30 x 30 x 150 Zentimeter maßen. Jede Schachtel enthielt ein gesäubertes, an den Gelenken getrenntes menschliches Skelett.
Es gab nur einen Weg zu unserer Skelettsammlung, und der führte durch mein Büro. Ich wollte nicht, dass jeder Zugang zu den Skeletten hatte – wenn sich herumsprach, dass da Hunderte von Schachteln voller Skelette zur freien Bedienung herumlagen, konnte man sich leicht betrunkene Verbrüderungsstreiche, makabre Halloweendekorationen und zahllose andere studentische Albernheiten vorstellen. Während wir also nicht viel Federlesens darum machten, dass wir diese Sammlung hatten – wir waren vielmehr sehr stolz darauf, da es die größte Sammlung moderner Skelette mit bekanntem Alter, Ethnie und Geschlecht war –, achtete ich doch sorgfältig darauf, dass die Skelettsammlung abgeschlossen war, und gab Schlüssel nur an den Lehrkörper der forensischen Abteilung und an Assistenten aus.
Ich schob mich durch die grauen Metallregale, auf denen sich die länglichen Kartons stapelten, und fühlte mich dabei wie ein
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