Anatomie
vergleichen?« Sarahs Schnelligkeit und ihr Interesse machten sie in der Tat sehr viel anziehender als jede Sirene im hochrutschenden Rock.
»Das konnte man damals natürlich noch nicht, denn das Verbrechen geschah rund sechzig Jahre, bevor DNA-Tests üblich wurden. Aber man könnte es jetzt machen«, sagte ich. »Die Knochen werden in Glasröhrchen aufbewahrt; an einem ist sogar noch ein wenig Weichgewebe, also gibt es wahrscheinlich genügend DNA für einen Test. Doch die Behörden und die Familie Lindbergh scheinen sich der Identifikation sicher zu sein: Die Kleidung entsprach dem, was der Junge trug, und ein Fuß wies übereinanderstehende Zehen auf, eine sehr charakteristische genetische Fehlbildung. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, die Familie so lange nach Abschluss des Falls noch weiteren Ängsten auszusetzen.« Sarah nickte verständig.
»Kommen wir zurück zum Becken«, sagte ich. »Ich reiche diese Beckenknochen jetzt herum. Seien Sie vorsichtig. Ich weiß, dass die meisten jungen Burschen unter Ihnen noch nie ein weibliches Becken in den Händen gehalten haben, also ist dies eine gute Gelegenheit, zu üben, wie man es sachte anfasst.« Das war ein alter Witz, der mir normalerweise einige Lacher im Saal einbrachte, doch mir war aufgefallen, dass sich in dieser Hinsicht in den letzten paar Jahren etwas verändert hatte. Die Jungen lachten noch, doch die Mädchen runzelten inzwischen eher die Stirn. Ich machte mir im Geiste eine Notiz, diese Bemerkung im nächsten Jahr aus dem Vorlesungsskript zu streichen.
Während die Becken im Hörsaal die Runde machten, erklärte ich, wie sich die Schambeinfuge – das Gelenk, in dem die beiden Schambeine in der Mittellinie des Bauchs aufeinandertreffen – mit dem Alter veränderte und wie diese Veränderungen uns verraten konnten, wie alt ein Mensch war, als er starb. Ich reichte zwei weitere Schambeine herum – eines von einer achtzehnjährigen Frau, das andere von einer Vierzigjährigen –, sodass sie selbst die Abnutzung eines Vierteljahrhunderts sehen konnten.
Als das weibliche Becken bei Sarah ankam, fiel mir auf, dass sie es drehte, um es aus allen Winkeln zu betrachten. Sie runzelte die Stirn und kaute auf der Unterlippe, als konzentrierte sie sich sehr. Ich trat an ihre Bank. »Haben Sie noch eine Frage?«
Sie schaute auf. »Können Sie allein anhand dieses Knochens sagen, ob diese Frau – ob eine Frau überhaupt – ein Kind zur Welt gebracht hat?«
Es war eine einfache, logische und unschuldige Frage, und sie traf mich mit der Wucht einer Breitseite. Bilder von Kathleen – im Geburtsschmerz und dann im Todesschmerz – wanden sich in meinem Kopf, vermischten sich mit Bildern der erwürgten jungen Frau und ihres traurigen kleinen Fötus. Als ich mir schließlich bewusst wurde, dass die Studenten mich anstarrten, wusste ich nicht, ob eine halbe Minute oder eine halbe Stunde vergangen war.
»Ja«, murmelte ich schließlich. »Ja, das kann man.«
Ich stolperte zur Tür.
»Das war’s für heute.«
10
Während ich mir meinen Weg zurück zu dem Flur unter dem Stadion bahnte, beruhigte sich mein galoppierender Puls wieder, und ich war auch nicht mehr kurzatmig.
Die Flure des anthropologischen Instituts zeichneten die Form des Stadions darüber nach, und wo sich die Tribünen um die Endzonen bogen, krümmten sich auch die Flure. Wenn man durch einen der schlecht beleuchteten kurvenreichen Tunnel ging, bekam man leicht das Gefühl, man befände sich in einem wie durch ein Wunder erhaltenen minoischen Labyrinth oder in einer seltsamen, verfallenen Raumstation. Als ich die letzte Kurve zu meinem Büro nahm, sah ich Deputy Leon Williams, der an einer Stellwand ein Plakat mit einem Navajo-Schädel aus dem neunzehnten Jahrhundert betrachtete.
»Wir machen noch einen Anthropologen aus Ihnen«, sagte ich.
»So schlecht wäre das gar nicht, wenn ich mich an solche Knochen wie die hier halten könnte. Wenn sie sauber und trocken sind, habe ich keine Probleme damit.«
»Ja, aber die auszugraben, ist ganz schön viel mehr Arbeit als bei den anderen. Man muss immer Kompromisse machen, Deputy, in jeder Branche.«
Er wartete, dass ich die Tür öffnete, doch das tat ich nicht. »Brauchen Sie nicht noch etwas, Doc – Notizen oder Knochen oder sonst was?«
»Nein, ich bin noch nicht fertig mit der Mazeration des Skeletts – der Schädel und das Becken kochen noch im Mazerationskessel. Und an das, was ich bislang herausgefunden habe, kann ich mich gut
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