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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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Denkt, er wäre besser und klüger als wir anderen.«
    »Wäre nicht gerade besonders klug, eine Frau zu erwürgen und ihr dann fröhlich seinen Namen um den Hals zu hängen, was?«
    Er schüttelte wegwerfend den Kopf. Doch es war klar, dass er damit nicht die Vorstellung von O’Conners Schuld verwarf. Er verwarf meine Frage, und mich verwarf er gleich mit. Um sicherzugehen, dass ich die Botschaft auch verstanden hatte, drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon, bevor ich die Chance hatte, ihm von der Schwangerschaft der Höhlenfrau zu erzählen. Dabei war ich mir nicht mal ganz sicher, ob ich es ihm auch gesagt hätte, wenn er mir Gelegenheit dazu gegeben hätte.

12
    Als ich zurück zum Campus kam, brach die Nacht herein. In wenigen Tagen würde die herbstliche Tagundnachtgleiche sein, und die Tage wurden schon merklich kürzer. Es war noch gar nicht lange her – eine Lebensspanne oder gar zwei? –, da hätte ich mich beeilt, nach Hause zu kommen, hätte nur kurz im Büro vorbeigeschaut, um Kathleen anzurufen und mich zu entschuldigen, weil ich so spät kam. Der gewohnte Impuls anzurufen war immer noch da, doch nur für einen kurzen Augenblick: Nur lange genug, um mich daran zu erinnern, dass es keinen Grund gab anzurufen, weil niemand da war, der ans Telefon gehen würde.
    Sie war inzwischen zwei Jahre tot, doch der Schmerz schnitt mir immer noch bis ins Mark, und die Leere war nicht weniger quälend geworden.
    Ich saß an meinem Schreibtisch und starrte eine Minute oder eine Stunde lang in Raum und Zeit – in längst vergangene Zeit. Dann zwang ich meine Gedanken wieder zurück zu dem Fall in Cooke County: Ich hatte ein unbekanntes – oder zumindest namenloses – Opfer, einen unbekannten Mörder und Menschen auf verschiedenen Seiten des Gesetzes, die mehr zu wissen schienen, als sie mir erzählten. Immer wieder kam ich auf zwei Namen zurück: Jim O’Conner und Lester Ballard. Ich wusste jetzt, wer O’Conner war, zumindest oberflächlich. Aber Ballard, den O’Conner erwähnt hatte, war mir ein Rätsel. »Lester Ballard«, sagte ich laut. »Ich rufe Lester Ballard. Melden Sie sich, Lester Ballard.«
    Ein Klopfen an meiner Bürotür ließ mich zusammenfahren. »Entschuldigen Sie bitte, Dr. B.?« Es war Sarah, meine kluge Studentin aus der Einführungsvorlesung. In der einen Hand trug sie eine Aktentasche, in der anderen ein zerfleddertes Exemplar meines Knochenkundehandbuchs, dem Leitfaden zur Knochenidentifizierung, den alle Doktoranden der forensischen Anthropologie auswendig lernen mussten.
    Ich lächelte verlegen. »Sie sind nicht Lester Ballard.«
    Sie lachte. »Nicht ganz. Ich gelte ja schon als verschroben, aber im Vergleich zu ihm bin ich doch ziemlich zahm.«
    »Warten Sie … Sie haben tatsächlich schon mal etwas von Lester Ballard gehört?«
    »Klar. Er ist toll.«
    »Toll, wie? Er ist doch kein Mörder oder so?«
    »Nun, doch, er ist ein Mörder und noch so manches andere Zwielichtige, aber er ist eine tolle Figur.« Ich verstand nur Bahnhof. Sie amüsierte sich köstlich. »Eine Romanfigur. Er kommt in einem Roman vor.«
    »Einem Roman? Fahren Sie fort.«
    »Südstaatenliteratur. Das Buch heißt Child of God. Von Cormac McCarthy, dem vielleicht größten Südstaatenautor seit Faulkner, auf jeden Fall aber dem größten Autor, den Knoxville je hervorgebracht hat. Sein bekanntestes Werk ist All die schönen Pferde; es wurde vor ein paar Jahren mit Matt Damon und Penelope Cruz verfilmt.« Der Name brachte etwas zum Klingen, aber ich hatte den Film nicht gesehen. »Tolles Buch, mittelmäßiger Film. Die meisten anderen Sachen von McCarthy sind ziemlich finster, manchmal auch bizarr. Wie Lester.«
    »Bizarr, in welcher Hinsicht?«
    »Nun, Lester ist ein Bergmensch – ein richtig primitiver, hinterwäldlerischer Typ –, der am Ende einige Frauen umbringt und ihre Leichen in einer Höhle versteckt. Irgendwann entwickelt er einen Hang zur Nekrophilie. Lebende Frauen wollen wohl nichts von ihm wissen, schätze ich mal.« Sie kicherte aus Gründen, die mir verborgen blieben.
    »Gütiger Himmel. Und das haben Sie gelesen? Und es hat Ihnen gefallen?«
    Sie nickte strahlend. »Es klingt wirklich schräg, und manches ist auch echt gruselig. Aber das Seltsame ist, dass Lester, obwohl er ein Monster ist, auch irgendwie charmant ist. Witzig und naiv und irgendwo im Herzen auch unschuldig, trotz seiner Taten.« Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Okay, Sie erinnern sich doch an die Andy

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