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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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Südstaatenliteratur.« Aus einer Jackentasche zog ich ein zerfleddertes Exemplar von Child of God, das ich eine Stunde vorher in der Wühlkiste des Campus-Buchladens gefunden hatte. Ich wedelte vielsagend damit durch die Luft. »Lester mag Frauen. Tote Frauen. Hält sie in Höhlen frisch.«
    »Tun wir das nicht alle? Du denkst also, es gibt eine Verbindung zwischen diesem Buch und dem Mord? So was wie ein Nachahmer – wahres Verbrechen ahmt skurrilen Roman nach?«
    »Nein, das denke ich eigentlich nicht. Aber ich denke, dass Jim O’Conner zu klug und zu belesen ist, um ein mordender Hinterwäldler zu sein. Ich verwette mein Gehalt darauf, dass er den Namen der Frau kennt; er war so was von außer sich, als er zwei und zwei zusammenzählte. Aber warum sagt er ihn uns dann nicht, wenn er nicht der Mörder ist?«
    »Vielleicht ist er ja doch der Mörder. Nur weil er moderne Südstaatenliteratur zitiert, macht ihn das doch nicht automatisch zum Dudley Do-Right.«
    »Ich weiß, aber er wirkt irgendwie nicht wie ein Mörder auf mich. Nenn es anthropologischen Instinkt.«
    »Viele Anthropologen haben auch gedacht, Ted Bundy sei ein verdammt netter Kerl.«
    »Okay, vergiss es. Urteile selbst. Hey, du hast gesagt, du hast von deinem Kumpel im Militärarchiv gehört. Was hat er denn über O’Conners Militärakte herausgefunden?«
    »Army Ranger. Hat sich besondere Verdienste erworben. In Nordvietnam hat er eine Mission zur Rettung eines abgestürzten Piloten geleitet. Das hat ihm eine Beförderung, ein Purple Heart, einen Silver Star und die Nominierung für eine Ehrenmedaille eingetragen. Wenn er kandidieren würde, würden seine Gegner ihn als Feigling bezeichnen, aber für mich klingt er eher wie einer, den ich im Urwald gerne zu meiner Deckung mit dabei hätte.«
    »Na, in einer Minute kannst du dir ein Bild machen, ob sein Äußeres mit deiner Einschätzung übereinstimmt.«
    Vielleicht auch nicht. Ganz plötzlich kam mir das Treffen, zu dem wir unterwegs waren, problematisch vor. Die Straße endete hundert Meter vor uns vor einer dichten grünen Wand. Auf beiden Seiten des Schotterwegs schoben sich Klippen näher heran. Ich fuhr nur noch im Schneckentempo. »Und jetzt?«, fragte ich.
    Art zuckte die Achseln. »Bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?«
    »Nun, ich war mir ziemlich sicher. Ich weiß, dass wir zwischen den beiden Schierlingstannen von der Flussstraße abgebogen sind. Ich weiß, dass wir an der großen Platane ungefähr vierhundert Meter hinter uns gehalten haben, damit Waylon mir die Mütze übers Gesicht ziehen konnte. Danach konnte ich nur noch die Innenseite seiner Kappe sehen – aber es kam mir nicht so vor, als hätten wir noch mal gehalten oder wären irgendwo abgebogen.«
    »Na, dann fahren wir doch einfach weiter.«
    »Aber wohin denn? Wie denn? Die Straße endet doch da vorne.«
    »Fahr, bis du nicht mehr weiterkommst, dann sehen wir schon, wie’s weitergeht.«
    Wir krochen voran. Die grüne Wand vor uns war eine verfilzte Masse aus Kudzuranken. Als wir näher kamen, fiel mir auf, dass die Straße nicht direkt am Kudzu endete; sie schien darunter abzutauchen. Links des Schotterwegs kam aus dem Rankenvorhang ein kleiner Wasserlauf herausgesprudelt. Ich schaute Art an, und er grinste. »Verdammte Ranken!«, brüllte er. »Volle Kraft voraus!«
    Ich fuhr weiter, und der Pick-up tauchte unter den überhängenden Ranken durch. Sie schleiften wie in einem fiesen Albtraum über die Windschutzscheibe, dann schabten sie übers Dach und griffen mit rutschenden, klatschenden Geräuschen nach Außenspiegeln, Scheibenwischern und Antenne. Der Motor begann zu kämpfen, nicht weil er sich der Ranken erwehren musste, sondern weil der Weg plötzlich steil anstieg. Über uns glaubte ich ein Netz aus Drähten oder Kabeln zu erkennen, das zwischen den hohen Klippen gespannt worden war, um dem Kudzu Halt zu geben.
    Nach vierhundert Metern, die sich endlos zu dehnen schienen, endete der Kudzutunnel an einem weiteren Rankenvorhang, und die Straße kam in einem kleinen Hochtal heraus – einem hängenden Tal, wie man das nannte –, das sich vor uns öffnete wie Shangri-La. Es war das Tal, wo Jim O’Conner einen Habicht beobachtet hatte, der auf einem aufsteigenden Luftstrom schwebte. Das Tal, wo auch ich unversehens in einen Luftstrom geraten war, der mich jetzt mit aller Kraft gepackt hatte und mich mit sich trug. Als Art und ich vor dem verwitterten Haus zum Stehen kamen, sah ich eine Gestalt reglos

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