Anatomien
und eine linkshändige Version gibt. Er wusste, dass Weinsäure polarisiertes (also auf eine bestimmte Art und Weise gefiltertes) Licht nach rechts ablenkte, synthetisch hergestellte 2,3-Dihydroxybutandisäure aber nicht. Er kristallisierte etwas Säure und erkannte, dass er zwei Mengen einander spiegelbildlich gegenüberstehender Moleküle vor sich hatte. Die eine bestand aus der in der Natur vorkommenden rechtsdrehenden Form, die andere, synthetische auseiner neuen linksdrehenden. Nach und nach fanden Wissenschaftler heraus, dass auch viele andere Moleküle wie Zucker, Aminosäuren und die DNA diese Eigenschaft besitzen. Der Schriftsteller Lewis Carroll hat anscheinend geahnt, wie wichtig es ist, dass unser Körper die richtige Version der Moleküle besitzt. Laktose und Milchsäure sind zwei Beispiele für händige Moleküle, die in der Natur nur in einer der beiden möglichen Formen auftreten. In Alice hinter den Spiegeln hält Alice ihr Kätzchen vor den Spiegel und fragt sich: „Ob sie dir dort auch deine Milch zu trinken gäben? Aber vielleicht schmeckt Spiegelmilch nicht besonders gut …“
Es ist kaum anzunehmen, dass die Händigkeit von Molekülen mit der Händigkeit des Körpers nichts zu tun hat. Ist unsere Links/Rechts-Asymmetrie die Folge einer „auf höherer Ebene abgebildeten molekularen Asymmetrie“, wie der Embryologe Lewis Wolpert vermutet? Wenn ja, wie ginge diese Hochstufung vor sich? Wolpert spekuliert, dass entlang der Mittellinie entstehende, asymmetrische Moleküle die anderen Moleküle und Zellen auf chemischem Wege auf die eine oder die andere Körperseite lenken.
Ein chemischer Mechanismus könnte auch erklären, warum wir bestimmte Vorlieben für rechts oder links haben und zum Beispiel unser Herz links schlägt. Aber warum produziert die Natur eine ungleiche Verteilung von rechts- und linkshändigen Molekülen? Da ist sich die Wissenschaft nicht sicher. Die spiegelbildlichen Exemplare von Aminosäuren und anderen biologisch wichtigen Substanzen weisen noch eine letzte Asymmetrie auf: Sie enthalten mehr linksdrehende als rechtsdrehende Elektronen. Erklärt das die Ungleichheit? Wenn ja, wie kam es dazu? Vielleicht löste ein kosmisches Ereignis sie aus, beispielsweise ein gigantischer Ausbruch polarisierten Lichtes. Vielleicht gibt es gar ein Spiegeluniversum, in dem alles andersherum existiert?
Hinter der Händigkeit im Verhalten vermutet der Psychologe Chris McManus einen genetischen Mechanismus. Es gibt zwei Gene, eines, das die Rechtshändigkeit, und eines, das die Linkshändigkeit bevorzugt. Sie heißen „dextral“ und „chance“. DieserMechanismus könnte die natürliche Ungleichverteilung verursachen. Wie immer, wenn jemand „ein Gen für …“ sagt, stellt sich die Frage nach Gentherapien. Eines Tages werden wir Linkshändigkeit vielleicht beseitigen können, indem wir das Chance-Gen unterdrücken. Aber wäre es nicht viel schöner, wenn wir uns von unserem uralten Aberglauben emanzipierten und das dextrale Gen unterdrückten? Dann stünden die Chancen fünfzig-fünfzig.
Geschlechtsorgane
Das Feigenblatt ist eigentlich ein schlechter Witz der Kunstgeschichte: Schauen Sie mal, wie groß es ist! Und wird nicht, was es verstecken soll, sogar hervorgehoben? Viele andere Blätter hätten die Aufgabe unauffälliger erfüllt. Doch haben sich Künstler um des öffentlichen Anstands willen wieder und wieder für das Feigenblatt entschieden. Sie können sich auf die Bibel berufen. Im Buch Genesis steht, Adam und Eva „hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“. Ein richtiger Schurz ist das strategisch positionierte Blatt der Künstler nicht gerade, dessen drei Ausbuchtungen den Penis und die beiden Hoden zugleich verdecken und nachzeichnen; zwei weitere Ausbuchtungen stehen ebenso deutlich für zwei Schamhaarlocken.
Das Feigenblatt war Künstlern seit dem Tridentinischen Konzil von 1563 mehr oder weniger explizit vorgeschrieben. Die Repräsentanten der katholischen Kirche erklärten, auf religiösen Bildern sei „alles Zügellose zu vermeiden, und so darf keine Figur so gemalt oder ausgestattet sein, dass sie die Lust des Betrachters erregt“. Das war einmal anders. Bei antiken Statuen und den von ihnen inspirierten Renaissance-Kunstwerken war die menschliche Gestalt nackt trainierenden Sportlern nachempfunden worden. Die Künstler stellten Staatslenker, Philosophen oder Heerführer gut trainiert dar, um zu zeigen, dass die Porträtierten gute
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