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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Bürger waren. Die Genitalien fielen meist unterlebensgroß aus. Wenn es nicht gerade darum ging, die Fruchtbarkeit zu preisen, wie auf den Standbildern des von den Römern so gern übernommenen griechischen Gottes Priapus mit seinem auffälligen erigierten Penis, hielt man das männliche Glied, auch das schlaffe, für etwas Vulgäres, das von den zu feiernden Leistungen nicht ablenken durfte.
    Das erste in London öffentlich aufgestellte Nacktstandbild nachrömischer Zeiten zeigte kurz nach dem Sieg über Napoleon bei Waterloo den Duke of Wellington. Der Künstler Richard Westmacott schuf eine dynamische Bronzestatue des Achilles, die so groß war, dass man auf dem Weg in den Hyde Park, wo sie errichtet werden sollte, eine Mauer abreißen musste. Westmacott war so umsichtig gewesen, ein Feigenblatt anzufertigen, doch war es, wie sicher auch die dahinter versteckten Geschlechtsteile, unwahrscheinlich klein geraten. Der Karikaturist George Cruikshank witterte seine Chance. Seine Zeichnung der Enthüllungszeremonie zeigt einige um das Standbild versammelte Damen (eine Gruppe von Frauen hatte es finanziert), und die Bildunterschrift lautet: „erected in Hide Park“, also „aufgestellt im Hide Park“, wobei die Doppelbedeutung von „erected“ auch im deutschen „erigiert“ anklingt und „hide“ verstecken bedeutet. „Seht mal, wie groß er ist!!“, schrillt eine der Damen, und eine andere betrachtet das entscheidende Detail mithilfe eines Fernglases. Und natürlich zeigt ein Kind auf die kleine Stelle und fragt seine Mutter: „Was ist denn das ?“ Die viktorianische Gesellschaft war über solche Kritik erhaben und stattete zahlreiche Statuen nachträglich mit Feigenblättern aus, sogar den Abguss von Michelangelos David im Victoria and Albert Museum.
    Der Nackte verliert in der Kunst an persönlicher Identität, was er an Symbolkraft hinzugewinnt. Westmacott hätte natürlich nie Wellington selbst nackt dargestellt. Die britische Öffentlichkeit hätte seinen Körper nicht nackt und in Bronze gegossen sehen wollen, und die Geschlechtsteile erst recht nicht. Auch Frauen verlieren ihre Identität und werden nackt zum Urbild weiblicher Sexualität und Verletzlichkeit. Der nackte Mann stolziert durch die Straßen und wahrt durch das Feigenblatt seinen Anstand. Die weibliche Nackte ist für den privaten Gebrauch bestimmt und schützt sich spielerisch durch die sogenannte Pudica-Pose: Eine Hand macht mehr oder weniger absichtsvoll den Versuch, den Geschlechtsbereich zu verbergen, und lenkt gerade dadurch den Blick des Betrachters darauf. Das Fachwort drückte diese Ambiguität aus, denn der lateinische Begriff „pudica“ bezeichnet, wie der deutsche, sowohl das Gefühl der „Scham“ als auch die entsprechende Körperregion.
    Mit ungeschminkten Darstellungen der Sexualität machen wir es uns schwer. Diese Prüderie haben wir sogar dem Rest des Universums mitgeteilt. Michelangelos David mag einen kleinen Penis haben, aber die Darstellung der Frau, die 1972 bzw. 1973 in den Raumsonden Pioneer 10 und Pioneer 11 auf einer Goldplatte weit über den Rand des Sonnensystems hinaustransportiert wurde, besitzt überhaupt keine Vagina. Warum verbergen wir das wahre Aussehen unserer Körper vor anderen Lebensformen? Werden sie sich fragen, wie wir uns vermehren?
    Der Weltraumforscher Carl Sagan begrüßte die Idee, dass die Raumsonde – das erste vom Menschen gemachte Objekt überhaupt, das dazu bestimmt war, unser Sonnensystem zu verlassen – etwas über ihre Schöpfer aussagen sollte. Erst sollten es nur ein oder zwei Schaubilder über unseren Standort im Universum sein sowie einige wenige Dinge, die wir über diesen Ort wissen. Doch Sagans Frau, die Künstlerin Linda Salzmann, schlug vor, Abbilder eines Mannes und einer Frau beizufügen. Sagan zufolge besitzen die Darstellungen rassenübergreifende Merkmale, doch Salzmann orientierte sich an antiken Idealen und Leonardo da Vinci. Jeder modebewusste Alien sieht sofort, dass die Frisuren auf einen weißen Menschen im späten 20.

Jahrhundert hindeuten. Der winkende Mann und die bescheiden neben ihm stehende Frau wirken so hinterwäldlerisch, dass ein Satiremagazin in Berkeley es mit der Unterschrift versah: „Hallo! Wir kommen aus Orange County.“ Sagan schrieb: „Die rechte Hand des Mannes vollführt, was einem Anthropologiebuch zufolge eine ,universale‘ Geste des guten Willens ist. Wie ,universal‘ sie wirklich ist, wissen wir natürlich nicht.“
    Die

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