Anatomien
einen eigenen Muskel, der ihm hilft, sich zu strecken. Er ist beweglicher als die anderen Finger. Inspektor Buckets Zeigefinger in Dickens’ Bleakhaus ist so wendig, dass er ein beinahe dämonisches Eigenleben gewinnt: „Ans Ohr gehalten, flüstert er ihm Ratschläge zu. Sein Herr hält ihn an seine Lippen, und er befiehlt ihm Schweigen; reibt seine Nase damit, und ihre Witterung wird schärfer; droht dem Schuldigen mit ihm, bezaubert ihn und stürzt ihn ins Verderben. Die Auguren der Geheimpolizei prophezeien stets, wenn sie Mr. Bucket mit seinem Finger Beratung pflegen sehen, daß man in kurzem von einer schrecklichen Vergeltung hören werde.“
Der Mittelfinger ist länger als der Zeigefinger, lässt sich aber schlechter strecken. Trotzdem ist er zu etwas nütze. Die Römer nannten ihn digitus impudicus , den schamlosen Finger. Vielleicht streckten sie ihn wie die Griechen hoch, wenn sie jemanden beleidigen wollten. Er hieß auch digitus medicus , weil römische Ärzte ihn wahrscheinlich dazu benutzten, Heilmittel anzurühren. Der nächsteist der digitus annularis – „ annulus “ heißt auf Lateinisch kleiner Ring, und auch wir nennen ihn noch Ringfinger. In der Antike glaubte man (irrtümlicherweise), dass dieser Finger über eine eigene Vene mit dem Herzen verbunden sei. Der kleine Finger hieß auricularis , und selbst er war nicht nutzlos: Er hat genau die richtige Größe, um sich damit die Ohrmuschel (die Auricula) sauber zu machen.
Und natürlich ist da noch der Daumen, laut Raymond Tallis der „Vater der Technologie“. Da wir ihn den anderen Fingern gegenüberstellen können, ist die Hand besonders leistungsfähig, denn sie kann auf verschiedene Arten und Weisen zugreifen. Montaigne erklärt in seinem Essay Über die Daumen zutreffend, woher das französische Wort pouce stammt: vom lateinischen pollere, sich durch Stärke auszeichnen. Er schlägt auch eine unechte, aber angemessene Alternative vor: anticheir. Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff hieße etwa „der Hand gegenüber“. Beide Bezeichnungen werfen Licht auf die einzigartige Bedeutung des Daumens.
Unsere Fingerfertigkeit erhalten wir aber erst, indem die flexiblen Finger und der Daumen zusammenwirken. Die Namen der einzelnen Finger deuten ihre Spezialisierungen an, aber in jeweils neuen Zusammenstellungen können sie noch viel mehr bewirken. Zeigefinger und Daumen können vorsichtig eine Blume pflücken oder eine Kontaktlinse aus dem Auge nehmen; alle fünf Finger ermöglichen es uns, mit Stäbchen zu essen.
Handleser gibt es schon seit Jahrtausenden, aber erst seit Kurzem wird ihre Tätigkeit wissenschaftlich untersucht. Als ihr Gründervater könnte Aristoteles gelten, der wie nebenbei in seiner Historia animalium bemerkte, die quer über die Handfläche verlaufende Lebenslinie sei bei langlebigen Menschen länger. Warum sollte unser Schicksal auf der Hand liegen? Die Handfläche enthält einige lesbare Merkmale und lässt sich leicht vorzeigen. 1990 untersuchten Wissenschaftler am Royal-Infirmary-Krankenhaus in Bristol die Lebenslinien bei 100 direkt aufeinander folgenden Autopsien. Undsiehe da, die Länge der Lebenslinie hatte tatsächlich etwas mit dem Lebensalter zu tun. Allerdings nicht so, dass sie das Handlesen legitimieren würde. Die Forscher schrieben: „Mit zunehmendem Alter haben wir einfach mehr Falten.“ Besser wäre es, so heißt es verschmitzt weiter, die Länge der Lebenslinie langfristig zu beobachten und sich „mit den Teilnehmern etwa alle zehn Jahre an einem exotischen Ort zu treffen, um die Zwischenergebnisse zu besprechen“. Seltsam, dass diese Studie noch niemand durchgeführt hat.
Auffällig sind auch die Längenverhältnisse der Finger. Einst brachte man sie mit den fünf (nicht mit Shakespeares sieben) Lebensaltern in Verbindung, vom kleinen Finger der Jugend über den Ringfinger zum Zeitpunkt der Hochzeit und die längeren Finger der Reifezeit bis zum Niedergang des Daumens. 1875 beobachtete der deutsche Anatom und Anthropologe Alexander Ecker, dass bei Frauen der Zeigefinger länger sei als der Ringfinger, während es sich bei Männern umgekehrt verhalte. Das war so erstaunlich, dass viele andere die Erkenntnis rasch bestätigten. Da allerdings niemand etwas damit anfangen konnte, vergaß man es bald wieder. Das änderte sich 1983, als Glenn Wilson vom Londoner Psychiatrischen Institut auf Einladung der Zeitung Daily Express an einer Umfrage zu „veränderten Einstellungen von Frauen in
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