Anatomien
Großbritannien erfolgreich durchgeführten Geschlechtsumwandlungen. (Man spricht auch von einer Neuzuweisung des Geschlechts, was nicht nur feinfühliger, sondern auch biologisch genauer ist, wie wir gleich sehen werden.) Sie wurde in Liverpool als George Jamieson geboren und wuchs während des Zweiten Weltkriegs in einer großen Familie auf. „Ich wurde zwar gut katholisch erzogen, aber ich wusste von Anfang an, dass ich ein Mädchen bin“, schrieb sie später. George heuerte bei der Handelsmarine an und landete nach einigen Jobs in London und schließlich in Paris, wo er unter dem Namen Toni April als Transvestit auf der Bühne des berühmten Nachtclubs Carroussel auftrat. Eine Hormonbehandlung sollte seine Weiblichkeitakzentuieren, doch seiner Einschätzung nach konnte nur eine Operation gefühltes Geschlecht und sichtbares Geschlecht so übereinbringen, dass er weiterleben könnte. Im Mai 1960 reiste er im Alter von 25 Jahren nach Marokko, wo ihm das männliche Glied, das ihm so fremd vorkam, abgenommen und durch eine Vagina ersetzt wurde. Nach der Rückkehr nach Großbritannien musste sie einen weiblichen Namen annehmen, und dann begann ihr langer Kampf um die vollständige Anerkennung als Frau.
Schließlich finde ich die Papiere – annullierte Reisepässe, eine Eheurkunde, eine US-amerikanische Aufenthaltsgenehmigung und eine 2006 neu ausgestellte Geburtsurkunde. Die Geschichte eines Menschen lässt sich auf viele verschiedene Arten und Weisen erzählen. Dies auf der Basis von Fotos und amtlichen Dokumenten zu tun, ist eine konventionelle, offiziell anerkannte Möglichkeit. Mir kommt die Idee, Aprils Geschichte anhand ihrer Schuhe zu erzählen – von den immer größeren Holzschuhen, die George in den Liverpooler Slums tragen musste, über die Bootsschuhe aus Marinezeiten und die hochhackigen Schuhe aus Paris bis zu den dezenteren Modellen für die reifere Frau. Das wäre mal was anderes. Den amtlichen Zetteln, die unsere verschiedenen Stationen dokumentieren sollen, entgeht meist das wirklich Wichtige. Ganz besonders in Aprils Fall.
Die Papiere halten fest, dass April/George bei der Geburt ein Junge war. Nirgendwo steht, dass er sich in seiner Kindheit nicht männlich vorkam. Wie wir schon beim Gesicht gesehen haben, will die Gesellschaft, dass wir das sind, was wir zu sein scheinen. Unser Empfinden spielt erst mal keine Rolle. Wer männliche Genitalien hat, kreuzt auf dem Formular das M an, wer eine Vagina hat, das F. Andere Schubladen gibt es nicht. Für die Behörden sind Sexualorgane und Geschlechtlichkeit dasselbe. Erst nach der Operation konnte April ihren Namen ändern und ihr neues Geschlecht in den Pass eintragen lassen.
April war zweimal verheiratet. Die erste Ehe scheiterte – der Ehemann ließ sie mit der Begründung auflösen, dass April zum Zeitpunkt der Eheschließung ein Mann gewesen sei, obwohl sie nach ihrer Operation stattgefunden hatte und ihre neue Identität durch Ausweispapiere belegt war. Im November 1969 landete der Fall vor Gericht. Anklage und Verteidigung organisierten jeweils ihre eigenen physischen und psychologischen Untersuchungen. Heraus kam, dass sie wie jeder Mann XY-Chromosomen besaß, aber beim Psychotest ergab sich eher das Bild einer Frau. Das Gericht fällte das umstrittene und lange maßgebliche Urteil, dass das „wahre Geschlecht der Angeklagten“ durch die Chromosomen und die ursprüngliche Anatomie bestimmt werde und weder der psychologische Befund noch die Operation relevant seien. Seit diesem Präzedenzfall war quasi jeder Brite mit seiner Geburt geschlechtlich festgelegt. Erst 2004 änderte sich das; nun wird das neue Geschlecht eines Transsexuellen auch amtlich anerkannt. Dadurch wird es möglich, zum Beispiel vor einem Arbeitgeber oder einem Partner die frühere Geschlechtsgeschichte zu verbergen.
In vieler Hinsicht können körperliche Sexualanlagen und Empfinden auseinanderklaffen – oft entstehen dann soziale Spannungen oder juristische Kontroversen. Grundlegend sind zunächst chromosomale Variationen. Im Moment der Empfängnis sind wir alle (alle!) weiblich. Zwar steuert die Eizelle der Mutter ein X-Chromosom und das Spermium des Mannes entweder ein X- oder ein Y-Chromosom bei, doch legen diese das Geschlecht des Embryos nicht sofort fest. In der achten Schwangerschaftswoche beginnt, wenn der Embryo ein Y-Chromosom besitzt, die Ausbildung der Hoden, und die Anlagen für ein weibliches Fortpflanzungssystem verschwinden langsam. Wenn kein
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