Anatomien
Y-Chromosom vorhanden ist, setzt sich die „Normalentwicklung“ fort, bis ab der 13. Woche aus den embryonalen Keimdrüsen nach und nach die Eierstöcke werden.
Bei einigen wenigen Menschen kommt es nicht zur üblichen Paarbildung der Chromosomen. Ein zusätzliches Chromosom macht einen Jungen entweder zum „übermännlichen“ XYY oder zum XXY mit niedrigem Testosteronniveau und schwachem Geschlechtstrieb. Beide sehen männlich aus und fühlen sich auch so, aber sie besitzenmeist relativ kleine Genitalien und unter Umständen auch kleine Brüste. Barry (später Carolyn) Cossey war bei der Geburt nicht XXY, sondern XXXY, besaß also zwei zusätzliche Chromosomen. Ihm wurde ein neues Geschlecht zugewiesen – und sie trat dann in dem James-Bond-Film In tödlicher Mission kurz als Bond-Girl auf. Eine Frau kann von Geburt an XXX sein. Ein XO-Mensch, bei dem gar kein zweites Geschlechtschromosom vorhanden ist, kann weiblich aussehen, ohne Eierstöcke zu besitzen. Äußere Stressfaktoren können während der frühen Schwangerschaftswochen die Hormonmischung aus dem Gleichgewicht bringen, physiologische Veränderungen an Chromosomen, Keimdrüsen, Genitalien und Hormonen des Ungeborenen bewirken und zu Anomalien führen. Insgesamt besitzen schätzungsweise bis zu zwei Prozent der Menschen sogenannte intersexuelle Anlagen. Nach Aprils Operation war nicht mehr festzustellen, ob sie bei ihrer Geburt intersexuell gewesen war.
Intersexualität im engeren Sinne, das Vorhandensein körperlicher Merkmale beider Geschlechter, also zum Beispiel eines Eierstocks und eines Hodens, ist äußerst selten. Der herkömmliche Oberbegriff ist dann Hermaphrodit, nach dem Nachkommen der griechischen Götter Hermes und Aphrodite. Der Hermaphroditos der Sage war aber bei seiner Geburt nicht intersexuell. In den Metamorphosen des Ovid ist Hermaphroditos ein gut aussehender Junge, der im Teich der Salmakis badete. Eine Nymphe umfing ihn, und die beiden Körper verschmolzen zu einem einzigen Körper, der weder männlich noch weiblich war. Er war beides und keines von beidem. Die einfachste Erklärung führt die körperliche Veränderung auf die Wirkung des kalten Wassers zurück. Beim Auftauchen aus dem Wasser (wir denken an Wellington …) sieht er, dass der Teich, in den er als Mann gestiegen war, ihn als halben Mann entließ.
Ovid beschreibt noch weitere geschlechtliche Verwandlungen. Iphis ist ein Mädchen, das als Junge aufwächst, weil ihr Vater die Mutter angewiesen hatte, weibliche Babys bei der Geburt umzubringen. Iphis’ Hochzeitstag naht, und nach einer verzweifelten Anrufung der Götter vollzieht sich die wundersame Wandlung – sie verlässt den Tempel als Mann, mit größeren Schritten als je zuvor, dunklerer Haut, kantigeren Gesichtszügen und sogar kürzerem Haar. Die schöne Caenis bittet Neptun, der sie vergewaltigte, sie in einen Mann zu verwandeln. Caenus (wie Caenis dann heißt) ist mit dem Ergebnis zufrieden und widmet sich ganz den „männlichen Dingen“.
Die antiken Mythen erinnern uns daran, dass Geschlechtlichkeit nicht immer als unveränderlich galt. Vor der Entdeckung der Chromosomen und zu Zeiten, da man die inneren Sexualorgane noch nicht untersuchen konnte, war die Grenzlinie zwischen Biologie und Psychologie weniger eindeutig. Die heutigen Möglichkeiten operativer Veränderung führen unter Umständen eher zu einer Verfestigung der Ansicht, dass man die Dinge so belassen sollte, wie sie bei der Geburt waren oder eben nach einer Operation sind. Psychologen sprechen dagegen gern von einem sexuellen Spektrum. Das hat den Vorteil, neben „männlichen“ und „weiblichen“ Polen auch Zwischenstufen zuzulassen. Problematisch ist dabei nur die Unterstellung, dass man sich von dem einen Pol wegbewegt, wenn man sich dem anderen nähert.
Denn biologisch gesehen ist die Sexualität kein Nullsummenspiel. Bei allen Männern und Frauen lassen sich sowohl das „männliche“ Hormon Testosteron als auch die „weiblichen“ Hormone Östrogen und Progesteron nachweisen. Neben ihren bekannten Rollen bei der Sexualentwicklung haben sie viele andere Aufgaben. Das Niveau eines Hormons hat Einfluss auf das sichtbare körperliche Geschlecht: Männer haben durchschnittlich 50-mal so viel Testosteron wie Frauen. Aber die Bandbreiten der möglichen Hormonniveaus von Männern und Frauen überschneiden sich, daher haben einige Männer weniger Testosteron als manche Frauen und einige Frauen weniger Östrogen oder Progesteron als
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