Anatomien
Eltern sich so ein Erbesichern konnten, das an die Bedingung männlichen Nachwuchses geknüpft war. Er wurde zum Spion Ludwigs XV. und kam im Siebenjährigen Krieg zum Einsatz, fiel in Ungnade und ging nach London ins Exil. Sein weibliches Aussehen wurde zum Gegenstand des Tratsches, und an der Londoner Börse konnte man auf sein Geschlecht Wetten abschließen, allerdings kam es nie zu einer Entscheidung. Nach dem Tod Ludwigs XV. bat d’Éon um die Erlaubnis, als Frau nach Frankreich zurückkehren zu dürfen. Sie wurde unter der Bedingung erteilt, dass er sich als Frau kleide. Horace Walpole schrieb nach einer Begegnung mit d’Éon: „Ihre Hände und Arme waren bei der Geschlechtsumwandlung offenbar außen vor geblieben und eher dazu geeignet, einen Stuhl als einen Fächer zu tragen.“ Die Obduktion ergab schließlich, dass d’Éon biologisch immer schon ein Mann gewesen war.
Die fünf Jahre vor d’Éon in Worcester geborene Hannah Snell ging den umgekehrten Weg. Nach dem Scheitern ihrer Ehe und dem Tod ihres Kindes nahm sie die Identität ihres Schwagers an und heuerte bei den Royal Marines an, um sich auf die Suche nach ihrem Mann zu begeben, der sie verlassen hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie gern mit Spielzeugsoldaten gespielt. Jetzt war sie an britischen Einsätzen in Indien beteiligt. Elfmal wurde sie verwundet, auch einmal zwischen den Beinen. Man geht davon aus, dass sie die Wunde selbst behandelte oder auf die Verschwiegenheit einer indischen Krankenschwester zählen konnte, denn die Wahrheit kam nicht ans Licht. 1750 kehrte ihr Schiff nach England zurück, sie enthüllte ihr Geheimnis, verkaufte ihre Geschichte für gutes Geld an die Presse und trat öffentlich auf. Später machte sie in Wapping einen Pub auf – sie nannte ihn „Die maskierte Witwe oder Der weibliche Krieger“.
Als Neuzuweisungen des Geschlechts noch undenkbar waren und die Wissenschaft sich noch nicht überlegte, welche Gehirnregion mit unserem Selbstverständnis zu tun hat, waren Geschlechtsveränderungen kein medizinisches Problem, sondern eine Frage der Lebensführung. Es ist eine paradoxe Folge des medizinischen Fortschritts, dass unsere kulturellen Vorstellungen von sexueller Identität rigider geworden sind, seit wir Geschlechter leichter neu zuweisen können.
Füße
Fünfzehn Jahre, nachdem er auf der einsamen Insel strandete, sieht Robinson Crusoe auf dem sandigen Strand einen einzelnen Fußabdruck. Links oder rechts, groß oder klein – wir erfahren es nicht. Robinson tut nicht das, was vielleicht logisch gewesen wäre, nämlich seinen eigenen Abdruck neben dem neuen zu platzieren, um festzustellen, ob er diesen nicht vielleicht selbst hinterlassen hat.
Der Fußabdruck erscheint nach genau der Hälfte von Daniel Defoes berühmtem Roman. Seit dem Schiffbruch gab es zahlreiche Hinweise, dass Crusoe nicht allein ist. Er hat Angst vor Kannibalen, obwohl er glaubt, der einzige Mensch auf der Insel zu sein. Ihm erscheint die Vision eines Mannes, der ihn zur Buße aufruft. Irgendein Wesen zertrampelt sein Essen. Er hört sogar jemanden reden, aber es ist nur sein Papagei Poll.
Der Fußabdruck ist der erste belastbare Hinweis auf einen anderen Menschen. Drei Tage nach seiner Entdeckung überlegt sich Crusoe, dass es sein eigener sein könnte. Er stellt seinen Fuß daneben, der jedoch „bei weitem nicht so groß“ ist.
Crusoe entdeckt, dass manchmal Kannibalen die Insel aufsuchen, um hier ihre Opfer zu schlachten. Bei nächster Gelegenheit verwirklicht er seinen alten Traum und rettet einen dieser Gefangenen aus dem Kochtopf. Der gerettete „Indianer“, den er Freitag nennt, wird sein Begleiter. Und was ist mit dem Fußabdruck? Es ist ziemlich offensichtlich, dass er nicht von Freitag stammt, auch wenn die meisten Leser das annehmen (darunter auch Umberto Eco, der ihn im Rahmen einer Diskussion von Zeichen und Hinweisen in seiner Semiotik entsprechend deutet). Viel wahrscheinlicher ist, dass einerder Kannibalen oder ein anderer Gefangener ihn hinterließ, allerdings erfahren wir die Wahrheit nie. Er bleibt einfach ein Zeichen, ein ganz normales Lebenszeichen.
Der Fußabdruck bedeutet trotzdem vieles. Mit einem Fußabdruck kann man Land für sich beanspruchen. Der nächste Schritt ist, wie Neil Armstrongs Stiefel auf dem staubigen Mond uns verdeutlicht, die Fahne. Wichtig ist, dass der Fußabdruck auf Crusoes Insel (wahrscheinlich) von einem Einheimischen stammt und dass Crusoe trotzdem die uneingeschränkte
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