Anatomien
manche Männer. Das allgemein verbreitete Bild einer spezifisch männlichen chemischen Substanz wird sich aber sicher nicht so bald ändern, und so werden wir weiter von „testosterongesteuerten“ Fußballern und Aktienhändlern hören. Eigenartigerweise ist übrigens nie von „östrogengesteuerten“ Frauen die Rede.
Hormonexperimente mit Tieren belegen inzwischen, dass „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ voneinander unabhängige Variablen sind. Weibliche Exemplare verschiedener Tierarten legen, sobald ihnen Testosteron gespritzt wird, ein typisch männliches Verhalten an den Tag und wollen zum Beispiel andere Weibchen besteigen, aber sie werden nicht weniger weiblich. Für den Menschen bedeutet das, dass Schwule zwar in mancher Hinsicht weiblicher, in anderer aber genauso „männlich“ sind wie heterosexuelle Männer. Allgemein haben Homosexuelle mehr mit dem jeweils anderen Geschlecht gemeinsam, ohne dass sie dabei weniger mit ihrem eigenen Geschlecht übereinstimmen als Heterosexuelle. Bisexuelle können sich (aus Verwirrung, wie einige Heterosexuelle meinen) vielleicht nicht nur vorstellen, mit Männern und mit Frauen Sex zu haben, sondern sie sind unter Umständen überhaupt sexuell aktiver, womöglich aufgrund höherer vorgeburtlicher Hormonwerte. Sowohl aggressive Heteros als auch schwule Aktivisten unter den Neurobiologen haben versucht, eine für das Schwulsein zuständige Gehirnregion ausfindig zu machen – umsonst. Es scheint sowohl etwas mit biologischer Körperausstattung, als auch mit psychologischer Geschlechtlichkeit und sexueller Orientierung zu tun zu haben.
Zu den biologischen Variationen kommen kulturelle Faktoren. Mit dem Wort „Gender“ bezeichnen wir in Abgrenzung zum körperlichen Geschlecht das soziale Geschlecht. Unsere Erwartungen an ein bestimmtes Geschlecht sind kulturell geprägt. Besonders stabile Schranken stellt etwa die Grammatik auf. Warum ist auf Französisch ein Tisch weiblich und ein Schreibtisch männlich? Und warum ist der Tisch im Französischen weiblich und im Deutschen männlich? Der ganze Unsinn wird darin augenscheinlich, dass die Geschlechtsorgane oft selbst das unpassende grammatische Genus besitzen. In der französischen Umgangssprache ist „la bite“ der Schwanz, und „le con“ das weibliche Gegenstück. Marina Warner weist darauf hin, dass die griechischen Wörter für Messer, Gabelund Löffel drei verschiedene Geschlechter haben. Manchen Experten zufolge sind grammatische Geschlechter unnötig und zum Aussterben verdammt. Das wird allerdings wohl nicht so bald geschehen. Selbst im seit Langem geschlechtslosen Englisch sind Schiffe weiterhin weiblich (auch die Benjamin Franklin und die Nelson). Das Wort „genus“ bezeichnet einfach einen „Typen“ und muss nichts mit Sexualität zu tun haben. Wo es zwei (oder drei) Typen gab, beschlossen die Grammatiker einfach, sie maskulin und feminin (und neutrum) zu nennen. Sie hätten sie auch links und rechts, oben und unten oder schwarz und weiß nennen können.
Auch und vor allem was das soziale Geschlecht angeht, erfinden wir uns ständig neu. Ein Leben lang erfüllen oder unterlaufen wir die Erwartungen, die an uns herangetragen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Druck, kleine Jungs blau und kleine Mädchen rosa anzuziehen. Eine biologische Grundlage gibt es dafür nicht. Im 19.
Jahrhundert trugen Mädchen und Jungen meist dieselbe Kleidung (oft ein Kleidchen), bis Jungen im Alter von etwa sechs Jahren ihre ersten Hosen erhielten. Behörden und öffentliche Toiletten stellen uns vor die Wahl zwischen zwei Alternativen. In manchen Sprachen haben bestimmte Wörter verschiedene Endungen, je nachdem, ob ein Mann oder eine Frau sie ausspricht. Wie männlich oder weiblich wir uns fühlen, ist wohl eher eine Frage des Vergleichs – so etwas wie eine absolute und bedingungslose Geschlechtsidentität gibt es nicht.
Zahllose Geschichten erzählen von Männern und Frauen, die vorgaben, zum jeweils anderen Geschlecht zu gehören. Die Legende von der Päpstin Johanna besagt etwa, dass im 9.
Jahrhundert die Geschicke der Kirche von einer Frau geleitet wurden, aber wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Erfindung, die das Papsttum in Verruf bringen sollte.
Die folgenden beiden Geschichten stammen aus dem 18.
Jahrhundert. Der französische Diplomat und Spion Chevalier d’Éon behauptete, 1728 als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein. Das Kind wuchs als Junge auf, vielleicht weil die
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