Anatomien
Herrschaft über das ganze Land für sich reklamiert.
Isoliert, wie er ist, besitzt der Fußabdruck noch stärkere Symbolkraft. Eine ganze Spur wiese auf einen bestimmten Menschen hin, einen Körper mit Richtung und Ziel, den Weg eines Jägers vielleicht. Aber bei einem einzelnen Abdruck fragt man sich, wie er dort hingekommen ist. So ist er ein göttliches Zeichen, dass nämlich Crusoe weder von Gott noch von seinen Mitmenschen verlassen ist. Götter und Heilige hinterlassen Fußabdrücke: Christus auf dem Ölberg, Mohammed in Mekka. Buddha und Vishnu vermessen das Universum Schritt für Schritt. Wer die Bodenhaftung nicht verliert, kümmert sich auch um Irdisches.
David Hume geht in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand auf genau dieselbe Situation ein und fragt, inwiefern ein einzelner Fußabdruck auf eine besondere Vorsehung oder Gott verweise. „Die Fußspur im Sande kann für sich allein nur beweisen, dass ein ihr entsprechender Körper dagewesen ist, der sie hervorgebracht hat; aber die Spur eines Menschenfußes beweist außerdem nach unserer sonstigen Erfahrung, dass wahrscheinlich ein zweiter Fuß dagewesen ist, welcher auch eine Spur hinterlassen hat, die nur die Zeit oder andere Umstände verlöscht haben“, so Hume. „Wir kennen die Gottheit nur aus ihren Werken.“ Doch können wir aus dem Werk, der Natur, direkt nichts über sie erfahren, weil wir, anders als beim Fußabdruck, kein relevantes Vergleichswissen besitzen. Als Menschen kennen wir die Form des Fußes und seiner Abdrücke, aber für Gottes Werke (wenn sie es denn sind) fehlt uns ein solcher äußererMaßstab. Die Werke der Natur taugen daher nicht als Gottesbeweis. Außerdem: „Alle Philosophie der Welt und alle Religion, die ja nur eine Art der Philosophie ist, kann uns nicht über den gewöhnlichen Lauf der Erfahrung hinausheben oder uns einen Maßstab für unser Benehmen und Betragen geben, der von dem aus der Betrachtung des gewöhnlichen Lebens entnommenen abweicht.“
Der tschechische Schriftsteller Karel Čapek, der in seinem Drama R.
U.
R., „Rossums Universalroboter“, das Wort Roboter in die Alltagssprache brachte und von dem wir noch hören werden, geht in seiner humoristischen Kurzgeschichte Die Spur von dieser Denkweise aus. Herr Rybka spaziert durch den Neuschnee nach Hause und stellt sich vor, wer die verschiedenen Fußabdrücke um ihn herum hinterlassen hat. Dann bemerkt er Abdrücke in Richtung seines Hauses. „Es waren ihrer fünf, und genau in der Mitte der Gasse hörten sie mit einem scharfen Abdruck des linken Fußes auf; weiter war nichts zu sehen als die unberührte Schneedecke.“ Grübelnd schließt Rybka seine Tür auf und verständigt die Polizei. Der Inspektor erscheint, zieht verschiedene Schlüsse (handgearbeitetes Schuhwerk, forscher Gang) und versichert Rybka, dass der Täter nicht einfach abgesprungen sein könne, weil die Zehen im letzten Abdruck nicht übermäßig tief seien. Wo ist er also hin? Warum endet die Spur? Der Inspektor sieht seine Aufgabe jedenfalls als erfüllt an – es wurde schließlich kein Verbrechen begangen. Aber ein Mensch ist verschwunden, insistiert Rybka. Die Polizei, weist der Inspektor diesen schließlich zurecht, beschäftigt sich mit Straftaten, nicht mit Mysterien.
Was können wir am Fußabdruck eines Menschen ablesen? Jedenfalls nicht, ob er wild oder zivilisiert ist. In Robinson Crusoe geht es letztlich darum, wer zivilisierter ist, Crusoe oder der Inselbewohner, und Crusoe muss einsehen, dass er nicht unbedingt das Rennen macht. Ablesen können wir an den Füßen, in welcher Beziehung Crusoe zu Freitag steht. Freitags Füße sind größer, doch in einer merkwürdigen Szene kniet er sich vor Crusoe hin, berührt mit seinem Kopf den Boden, und dann stellt er Crusoes Fuß auf seinen Kopf. Wie es schien, so Crusoe, wolle er damit andeuten, „daß er für alle Zeit mein Sklave sein werde“. Was diese Interpretation bedeutet, wird einige Seiten später offensichtlich: Crusoe erklärt Freitag: „Gott ist stärker als der Teufel, und deshalb beten wir zu Gott, daß er Jenen unter seine Füße trete …“
Versteinerte Fußabdrücke vermitteln Wissenschaftlern Informationen über Ereignisse, die Tausende oder sogar Millionen von Jahren zurückliegen. Die Form eines Abdrucks zeigt, welche der verschiedenen Hominiden-Arten an einem bestimmten Ort vorkam. Die ungefähre Körpergröße kann durch einen anthropometrischen Umrechnungsfaktor ermittelt
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