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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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werden. Dann lässt sich die Geh- oder Laufgeschwindigkeit aus den Abständen der Abdrücke ablesen. Die Tiefe eines Abdrucks zeigt, an welcher Stelle der Geher den größten Druck ausübte, woraus wiederum Rückschlüsse auf die Haltung möglich werden. Hat sich hier jemand an ein Tier herangeschlichen? Hat eine Frau ein Kind um die Hüfte getragen? Lag auf den Schultern ein totes Tier? Die Wissenschaft kann Fußabdrücke sogar datieren, indem sie analysiert, welche Bodenbestandteile der Fuß zusammenpresste.
    2005 gaben australische Anthropologen die Entdeckung fossiler Fußabdrücke bekannt, die im Pleistozän vor 20

000 Jahren in der Gegend der Willandra-Seen in der Provinz New South Wales hinterlassen wurden. Die Spuren mehrerer Erwachsener und Kinder haben sich erhalten. Ein Mann, der als T8 bezeichnet wird, sei durch die dünne Schlammschicht am Seeufer gerannt. Position und Tiefe der Abdrücke wiesen auf die erstaunliche Laufgeschwindigkeit von 20 km/h hin. Ein Jahr später untersuchte Steve Webb, der verantwortliche Forschungsleiter, dieselben Abdrücke noch einmal, nachdem vier weitere (und damit insgesamt elf von mehreren Hundert Abdrücken) T8 zugeschrieben worden waren. Diesmal errechnete er eine ganz andere Geschwindigkeit: 37 km/h. Das wäre schneller, als der heutige Weltrekordhalter Usain Bolt auf demselben Untergrund laufen könnte. Die aufsehenerregende Entdeckungschien die Thesen von Peter McAllister zu stützen, der in seinem Buch Rohes Fleisch und Dosenbier aufzählt, welche körperlichen Nachteile der moderne Mann gegenüber dem prähistorischen besitzt. Noch unglaublicher war, dass Webb einen einbeinigen Mann identifizierte, der mit 21,7 km/h unterwegs gewesen sein soll. T4 habe die Abdrücke eines Fußes und einer Krücke hinterlassen. Webb hatte sich bei der Interpretation der Spuren von den zentralaustralischen Pintubis beraten lassen, die auch heute noch zu Fuß auf die Jagd gehen. Sie erzählten von einem einbeinigen Stammesangehörigen, der außerordentlich schnell gewesen sei.
    Zeitgleich kam eine weitere erstaunliche Spur in der Vulkanasche auf dem Grund eines ausgetrockneten Sees in Zentralmexiko zum Vorschein. Vögel, Geflügel und Haustiere sowie Erwachsene und Kinder waren wohl gemeinsam auf der Flucht vor einem Vulkanausbruch. Ersten Schätzungen zufolge waren die Abdrücke in der Asche 38

000 Jahre alt. Da man davon ausging, dass die ersten Menschen vor 15

000 Jahren nach Amerika kamen, sah alles nach einer revolutionären Entdeckung aus. Wenn man sich bei der Datierung der Abdrücke nicht sehr verschätzt hatte, war Nordamerika offenbar schon viel länger als bisher vermutet besiedelt. Ein zweites Forscherteam gab dann bekannt, die Asche selbst sei 1,3 Millionen Jahre alt und damit deutlich älter als die frühsten Menschen irgendwo auf der Erde. Das erste Team schaute noch einmal genauer hin und musste Fehler eingestehen. Die Abdrücke sind vom Wasser verwischt, sodass nicht einmal mehr ein klares Rechts/Links-Muster sichtbar ist. Könnten sie von einem frühen Hominiden stammen? Oder handelt es sich um eine komplexe Mischung aus modernen und älteren Abdrücken? Dann wären sie mit jenem letzten Abdruck in Čapeks Geschichte vergleichbar, in den schließlich ein Streifenpolizist hineintritt. In jedem Fall scheint die Interpretation von Fußabdrücken keine einfache Aufgabe zu sein.
    Ein Fußabdruck ist das Zeichen dynamischen, menschlichen Handelns in der Vergangenheit. Hier war jemand, der ging oder rannte,sich an ein Beutetier heranpirschte oder darauf lossprang oder floh. Die Handlung selbst ist dabei nicht unbedingt nur körperlich, sondern unter Umständen auch symbolisch. Vor dreitausend Jahren glaubte man, dass der erste König der chinesischen Zhou-Dynastie zur Welt kam, weil seine Mutter in den Fußabdruck einer Gottheit getreten war. Noch im China der Moderne durften Ehefrau und Ehemann die Füße des jeweils anderen lange nicht sehen, weil diese mit der Fortpflanzung zu tun hatten. Das Tabu war so stark, dass man Frauen die Füße einband, bis sie deformiert waren. Diese Verschämtheit gibt es auch im Westen – angeblich haben die Briten im 19.

Jahrhundert sogar die Füße ihrer Konzertflügel bekleidet. Doch das war wohl nur ein Gerücht: In zeitgenössischen Katalogen wurden nacktbeinige Flügel angeboten, und schon zu dieser Zeit sei das „eher ein Witz gewesen“, heißt es in Ruth Barcans Buch Nudity .
    Am besten kennen wir nicht die Leiche

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