Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
Vom Netzwerk:
des Anatomen oder das versteinerte Ideal des Bildhauers, sondern unseren eigenen, lebendigen und bewegten Körper. Besonders lebendig ist er, wenn wir etwas mit unseren Füßen unternehmen. Der Sport greift heute in ritualisierter Form all das auf, was früher im Kampf, auf der Flucht und zum Überleben nötig war. Den Fünfkampf der antiken Olympischen Spiele gibt es im Prinzip immer noch: Laufen, Weitsprung, Speerwurf und Diskus sowie Ringen. Durch so seltsame Artefakte wie Bälle, ein abgestecktes Spielfeld und formalisierte Regeln haben wir uns freilich von den ursprünglichen Aktivitäten entfernt und unseren Füßen neue Aufgaben gestellt, zum Beispiel einen Ball in ein Tor zu schießen.
    Mich interessiert unter den Bewegungsformen vor allem der Tanz. Der Tänzer verausgabt sich körperlich, und doch muss er sich um des künstlerischen Ausdrucks willen kontrollieren. Tanzen ist zugleich eine hoch kultivierte und eine eigenartig urtümliche Tätigkeit. Wenn der Sport aus unserem Überlebenskampf hervorgegangen ist, so hat sich der Tanz wohl aus den frühen Kommunikationsformen entwickelt. Er ist teils erotisch, teils kultisch und als gleichförmiger Kriegs- oder Gesellschaftstanz auf das Gemeinschaftsgefühl ausgerichtet. Tanz ist der körperliche Ausdruck einer Kultur.
    Mehr hoffe ich von Deborah Bull zu erfahren, einer ehemaligen Solotänzerin beim Royal Ballet des Londoner Covent-Garden-Theaters. Zu ihren Glanzzeiten habe ich sie in mehreren Rollen gesehen. Vor allem erinnere ich mich an ein einfallsreiches Ballett über gefährdete Tierarten, bei dem das Penguin Café Orchestra die Musik beisteuerte. Deborah war ein Schafbock und musste in verzweifelter Trauer über die Bühne springen, wobei die normalerweise zum Ballett gehörende weibliche Eleganz völlig auf der Strecke blieb. Heute begrüßt sie mich in einem fensterlosen Büro des Royal Opera House, dessen künstlerische Leitung sie inzwischen innehat. An der Wand hängt ein Plakat der Olympischen Spiele in London 1948. Nackten Fußes spielt sie mit einer Sandale, als wollte sie mich an den Grund meines Besuchs erinnern.
    Die Regeln des Balletts entwickelten sich, so erzählt Deborah mir, am Hofe Ludwigs XIV. Heute kommen sie uns willkürlich vor, vielleicht sogar unnatürlich, aber sie standen mit den Moden und Gebräuchen der damaligen Zeit in Einklang. Sie zielen darauf ab, bestimmte Handlungen mit einem bestimmten Aussehen zu verbinden. „Beim Sport kommt es auf das Aussehen nicht an. Ein Fußballer kann ein Tor schießen, wie er will. Aber im Ballett muss ein Tänzer sein Bein auf genau die richtige Art und Weise bewegen.“ Die Haltung, bei der ein Tänzer die Fersen zusammenführt und die Füße in gerader Linie nach außen zeigen lässt, geht wohl auf den König zurück, der selbst Ballett tanzte und dem Hof seine seidenen Schuhe zeigen wollte. Uns kommt sie höchst unnatürlich, geradezu unmöglich vor. Doch ich merke zu meiner Überraschung, dass sogar ich diese Haltung ohne größere Schwierigkeiten einnehmen kann. Dabei spüre ich, wie die Muskeln und Gelenke in meinen Beinen funktionieren. Zum Beispiel bemerke ich in den Bändern meiner Hüfte ein ungewohntes Ziehen, das bei einem geübten Tänzer nicht mehr auftritt. Vor allem wird meine Propriozeption neu erweckt: Ich merke wieder, wo sich mein eigener Körper im Raum befindet.
    En pointe zu stehen , also das ganze Körpergewicht auf die Zehenspitzen zu verlagern, versuche ich erst gar nicht. In dieser Haltung sollten Tänzer leichter als Luft wirken und aussehen, als schwebten sie über dem Boden – ziemlich gekünstelt das Ganze. Deborah ist auf den Einwand gegen die vermeintlich folterähnlichen Anforderungen des Balletts nur allzu gut vorbereitet. „Man trainiert die Muskeln, um das Knochengerüst in eine bestimmte Form zu bringen“, sagt sie scharf. „Und seine Muskeln zu trainieren ist wohl nichts Schlechtes.“ En pointe wird der Fuß zum Endpunkt einer geraden Linie, die sich durch Wade und Oberschenkel, Unterleib und Rücken fortsetzt. Mir fällt wieder der Ingenieur ein, der den Körper als System aus Säulen, Balken und Hebeln sieht. Bei dieser Haltung ruht das gesamte Körpergewicht auf der Mittelachse, also auf Beinen und gestreckten Füßen. Diese ähneln den Stahlsäulen eines modernen Gebäudes, die sich bis zum Boden immer weiter verjüngen können, obwohl sie ein großes Gewicht tragen. „Der Körper bekommt das ganz gut hin“, sagt Deborah. „Seine Grenzen

Weitere Kostenlose Bücher