Anatomien
kennen wir noch gar nicht.“
Die für den Sport so wichtige Orientierung an immer neuen Rekorden gibt es im Tanz nicht, und doch streben Tänzer nach Verbesserungen, zum Beispiel bei der Arabeske. Die Tänzerin steht auf einem Fuß und streckt das andere Bein nach hinten aus. Im Lauf der Jahrzehnte ging es immer höher. Einiges bleibt sich aber gleich, etwa die Höhe, bis zu der ein Tänzer springen kann, denn die Gesetze der Physik gelten auch für ihn. (Übrigens können nicht nur alle einigermaßen gesunden Menschen, sondern die meisten Lebewesen von der Fliege bis zum Elefanten etwa einen Meter hoch springen. Sowohl die für den Sprung nötige, von den Muskeln bereitgestellte Energie als auch das am höchsten Punkt des Sprungs erreichte Energiepotenzial stehen in einem direkten Verhältnis zur Masse des Tieres, daher ist diese Masse bzw. die Größe letztlich irrelevant.)
Vom Sport unterscheidet sich der Tanz auch dadurch, dass der Tänzer seine Anstrengung verbergen muss. Beim Sport hören wirden Ringer stöhnen, wir sehen den Läufer schwitzen, und wir beobachten, wie die Beine des Gewichthebers zu zittern beginnen. Einiges davon ist kulturell und nicht körperlich bedingt – der Sportler will zeigen, wie sehr er sich anstrengt. Die auffälligen Schreie, mit denen einige Tennisspielerinnen ihre Schläge begleiten, sind Teil einer theatralischen Aufführung.
Im Ballett darf niemand stöhnen. Oder sichtbar schwitzen oder mit den Beinen zittern. Der Eindruck des Unangestrengten, der zur Kunst gehört, wäre sonst dahin. Im Laban Dance Centre, das sich in einem bunten, modernen Gebäude am Deptford Creek im Südosten von London befindet, mache ich mich mit einem Forschungsprojekt vertraut, das untersuchen soll, wann die körperlichen Grenzen eines Tänzers erreicht sind und was dann passiert. Das zwanzigminütige Tanzstück In Preparation soll nach den Worten seiner Choreografen „die Anstrengung hinter der ,Unangestrengtheit‘ sichtbar machen“. Tänzerin und Probandin ist Emma Redding, die hier als Tanzwissenschaftlerin arbeitet. Sie soll immer wieder bestimmte schwierige Bewegungen ausführen, bis ihre Muskeln ermatten und erschöpft sind. Die Performance soll jedoch nicht schon dann aufhören, wenn sie glaubt, ihre Grenzen erreicht zu haben – ein Trainer soll Emma weiter antreiben. „Kurz vor dem Zusammenbruch“, erklärt Emma mir, „wird einem schwindelig und schwummerig, und man zittert. Aber was dabei sind nur Gewohnheiten und was biologische Bedürfnisse?“ Messinstrumente an Emmas Beinen sollen den Laktataufbau und andere Funktionen überwachen. Die wissenschaftlichen Daten werden zusammen mit dem subjektiven Feedback analysiert, zum Beispiel Emmas eigenen Kommentaren und den Äußerungen kritischer Zuschauer.
Letztere sind wertvoll, weil gut informierte Beobachter auch wichtige Einsichten formulieren können. Sie beruhen auf der Aktivität sogenannter Spiegelneuronen. Diese wurden 1992 im MRT nachgewiesen. Es handelt sich um Gehirnzellen, die nicht nur dann feuern, wenn man eine bestimmte Handlung ausführt, sondern auch, wenn man sie beobachtet. Dadurch erklärt sich unter anderem, warum ehemalige Spitzensportler so gute Sportreporter abgeben. Wenn ein Fußballkommentator sieht, wie ein Spieler den Ball in eine bestimmte Richtung kickt, schätzt er die Flugbahn genauer ein als jemand, der nicht selbst Sportler war. Aus dem gleichen Grund sind Ballettkritiker auch eher ehemalige Tänzer als Musik- oder Theaterkritiker ehemalige Musiker oder Schauspieler. Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes ein Gefühl dafür, was gerade passiert, und können ihr Urteil darauf gründen. Im Allgemeinen sind Spiegelneuronen wohl immer beteiligt, wenn wir durch das Beobachten etwas lernen, und auch für unser Einfühlungsvermögen spielen sie wahrscheinlich eine wichtige Rolle.
Emma bereitet die Prozedur, die unter anderen Umständen als Folter durchgehen würde, sichtlich Freude. Da ich kein Tänzer bin oder war, kann ich mich auch nicht durch Spiegelneuronen in ihr Denken einfühlen. Mir bleibt nur, ihr viel Glück zu wünschen.
Vielleicht schlagen steinerne Füße uns deshalb so sehr in ihren Bann, weil Füße sonst immer in Bewegung sind. Im biblischen Buch Daniel hat der babylonische König Nebukadnezar einen Alptraum, in dem ihm ein Götzenbild erscheint: „Das Haupt dieses Bildes war von feinem Gold, seine Brust und seine Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Kupfer, seine
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