Anatomien
bis zur bleichen Leiche.
Eine realistische Hautfarbe – oder besser, realistische Übergänge zwischen verschiedenen Farbstufen – findet sich auf kaum einer dreidimensionalen Darstellung des menschlichen Körpers. Barbies Haut ist perfekt (mit Ausnahme des Nabels, durch den sie in ihre Plastikform gespritzt wird), aber auch langweilig, denn es zeichnen sich weder Venen noch andere Blutgefäße darauf ab. Barbie hat weder unreine Hautflecken noch Körperbehaarung noch unterschiedlich gebräunte Körperpartien. Sie ist kahl. Die Nippel von Schaufensterpuppen sind unnatürlich keck, aber ihre Brustwarzenhöfe sind nie dunkler als die Haut darum herum, obwohl das bei richtigen Menschen so ist.
Die realistische Wiedergabe hautfarblicher Variationen wirkt fast unheimlich, wie Ron Muecks Skulpturen bezeugen. Muecks Eltern stellten Spielwaren her, und Ron fertigte Animationsmodelle für das australische Fernsehen und die Werbeindustrie, bis er seine Künstlerkarriere in Angriff nahm. Sein 1997 entstandenes Werk Dead Dad vermittelt uns einen Eindruck seiner Technik. Die etwa einen Meter lange, also gut halblebensgroße Figur stellt den toten Vater des Künstlers liegend dar. Die Haut ist blass, glänzt etwas, und an Ohren und Augenlidern geht sie ins Rosafarbene. Jede Falte an den Fingergelenken ist sichtbar, jede einzelne Bartstoppel. Das Werk verstört den Betrachter, weil es äußerst persönlich, äußerst realistisch – und viel zu klein ist. Es setzt Wahrnehmung und Erfahrung in ein Spannungsverhältnis zueinander und sagt uns einerseits mit Nachdruck, dass das, was wir sehen, echt sei, und gleichzeitig mit genauso viel Nachdruck, dass es nicht echt sei.
All diesen gezeichneten Körpern fehlt es nicht nur an einer dritten Dimension oder der richtigen Größe, sondern vor allem an Leben. Die perfekte Haut der Barbie fühlt sich abstoßend an, denn sie isthart, kalt und klebrig-rutschig, während unsere eigene Haut warm, weich oder fest und angenehm zu berühren ist. Warm ist sie wegen des zirkulierenden Blutes, das auch für die Farbe sorgt, die sich von der einer leblosen Leiche unterscheidet. Im Ruhezustand gibt der menschliche Körper etwa 100 Watt an Energie ab, beim Sport bis zu 300 Watt, er setzt also pro Oberflächeneinheit so viel Energie um wie die Solarzelle auf dem Dach. Wer als Architekt Räume baut, in denen sich viele Menschen aufhalten werden, muss das berücksichtigen. Wärme ist meist ein willkommenes Lebenszeichen. Den warmen Händedruck ziehen wir der kalten Schulter vor. Manchmal erinnert sie uns aber unangenehm an andere Menschen. Der Schweizer Mathematiker Marcel Grossmann vertraute seinem Kommilitonen Albert Einstein an, er könne sich einfach nicht auf eine warme Klobrille setzen. Einstein erklärte ungerührt, die Wärme sei „völlig unpersönlich, und sie so zu empfangen bedeute keine ungewollte Intimität“.
Ich weiß nicht, ob Charles Darwin in dem Garten, wo er täglich im Kreis spazieren ging, Cuisse de Nymphe (erregt oder nicht) züchtete, aber er interessierte sich für das Erröten junger Mädchen. Fast sein ganzes Arbeitsleben beschäftigte es ihn. Seine ersten Notizen zum Thema stammen aus dem Jahr 1838. Er vermutete, dass Dunkelhäutige ebenso wie Hellhäutige erröten, Tiere aber nicht. Fast sicher war er sich, dass er während der Schiffsreise auf der Beagle eine Feuerländerin erröten sah. Im Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren widmete er dem Thema 1872 ein ganzes Kapitel. Nur der Mensch kann erröten. Wie kam es dazu? Welchen evolutionären Vorteil bietet diese Reaktion? Da das Erröten bei Dunkelhäutigen nicht sichtbar ist, handele es sich nicht um ein Sexualsignal. Zu Darwins Zeiten dachte man meist, es sei Gottes Weg, das Schamgefühl des Menschen sichtbar werden zu lassen – doch Darwin widerlegte diese Idee mit dem Argument, es wäre doch ungerecht, wenn ausgerechnet die Schüchternen darunter zu leiden hätten.
Darwin fragte bei Freunden und Briefpartnern nach, um mehrüber „diese so eigenartige und so menschliche Ausdrucksform“ zu erfahren. Er wollte wissen, ob Kinder erröten, und wenn nicht von Geburt an, dann ab welchem Alter. Er fragte, ob Blinde erröten. Er bewies, dass das Erröten nicht von der Hautfarbe abhing, denn er untersuchte auch Menschen, bei denen sich die Farbveränderung trotz Narben oder Albinismus zeigte. Eine eifrige Briefpartnerin informierte Darwin, Frauen, die besonders hübsch erröteten, seien für das
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