Anatomien
Serail eines Sultans wertvoller. Er fragte den Bildhauer Thomas Woolner, wie lange seine Nacktmodelle erröteten: „Sie treffen doch sicher oft Maler und kennen sie gut. Können Sie einige vertrauenswürdige Männer bitten, junge und unerfahrene Modelle zu beobachten, die zuerst oft erröten, und mir zu berichten, wie weit das Erröten sich am Körper nach unten fortsetzt?“ Die Antwort lautete, dass das Erröten meist nur an Gesicht und Hals erscheine, während der oder die Betreffende es am ganzen Körper spüren könne. (Der Schenkel einer erregten Nymphe kann also tatsächlich rot werden , doch liegt das an einer höheren Blutzufuhr, und der Grund ist physiologischer, nicht geistiger Natur, weshalb es sich nicht um ein Erröten handelt. Auch Affen, so Darwin, werden vor Leidenschaft rot.)
Letztlich schlussfolgerte Darwin, der Mensch erröte, weil er daran denke, was andere von ihm denken. Damit war er nicht ganz zufrieden, drückte sich doch in der Formulierung eher die Einzigartigkeit des menschlichen Bewusstseins und weniger unsere evolutionäre Verbindung mit anderen Arten aus. Aber sie erklärte, warum Neugeborene nicht erröten, Kinder aber schon; warum geistig Behinderte selten erröten, Blinde aber schon; warum wir nicht erröten, wenn wir allein sind, aber wenn wir uns an etwas Peinliches erinnern. Warum wir das Erröten so anziehend finden, konnte er nicht erklären, obwohl diese Frage den an der Fortpflanzung interessierten Darwin sicher sehr beschäftigte. Naturwissenschaftler können heute Blutflüsse und sogar die Temperatur roter Wangen leicht nachmessen, aber einer befriedigenden Antwort sind sie immer noch nicht auf die Spur gekommen.
„Darwins Mann hat zwar Manieren / Ist doch ein Affe nach dem Rasieren“, singt eine der Professorinnen in Gilberts und Sullivans Princess Ida, einer musikalischen Satire auf Feminismus, Evolution und andere Neuigkeiten, die den bürgerlichen Hausvater aus dem Konzept brachten. Von Darwin bis zum Nackten Affen des Zoologen Desmond Morris – ständig werden wir an unsere Haut erinnert: an ihre riesige Fläche, die ungefähr zwei Quadratmeter umfasst, womit sie – eine beliebte Fangfrage – das größte Organ des Menschen ist; an ihre relative Farbe, die wir so wichtig nehmen und trotzdem mit unzureichenden Adjektiven wie „schwarz“ oder „weiß“ versehen; und vor allem an ihre schiere, verletzliche, peinliche Nacktheit.
Sie ist uns so peinlich, dass wir einen ganzen Wortschatz für die entsprechende Empfindung entwickelt haben. Der Akt, so erklärt der Kunsthistoriker Kenneth Clark in seiner meisterhaften und nur begrenzt lüsternen Untersuchung des Themas, kam im 18.
Jahrhundert auf und sollte es Künstlern ermöglichen, ohne Scham den menschlichen Körper abzubilden und über ihn zu sprechen. Die Erfindung des Films und kurze Zeit später des Pornofilms machte es allerdings nötig, zwischen teilweiser, kurzer, natürlicher, sexueller oder drastischer Nacktheit, aber auch zwischen Nacktheit von vorn und von hinten usw. zu differenzieren. Es gibt sogar die paradoxe Kategorie der „angezogenen Nackten“ wie in einem Kurzfilm von 1955 über Lady Godiva, in dem Maureen O’Hara (in Hollywood) durch die Straßen von Coventry fährt. Sie trägt Unterwäsche, einen fleischfarbenen Ganzkörperanzug und, um wirklich auf Nummer sicher zu gehen, knielange Haare. Wie man die entsprechenden Begriffe verwendet, hat riesige Auswirkungen. Im Englischen wird zwischen „nude“ und „naked“ unterschieden. Wenn jemand „in the nude“ ist, ist er gewissermaßen da, um angeschaut zu werden. Eine von Paparazzis fotografierte Schauspielerin ist im Pressejargon „caught in the nude“, ein in einer kompromittierenden Situation erwischter Politiker war „naked“. Hunderte wissenschaftlicher Studien beschäftigen sich mit Akten in der Kunst, aber nur wenige mitder Nacktheit in Filmen oder Werbespots, an Stränden oder im Bad. Manchmal verschleiern wir auch, wo gar keine Schleier nötig sind. Altphilologen haben zum Beispiel das griechische Wort gymnos oder das lateinische nudus als „leicht bekleidet“ übersetzt, obwohl es „nackt“ heißt – auch wenn der sehr korrekte frühere Premierminister William Gladstone nicht glauben wollte, dass die griechischen Athleten zu Homers Zeiten nackt auftraten.
Kontext und Absicht machen viel aus. Die Nackte wird zum Akt, wenn jemand sie im Atelier in Öl malt, aber vielleicht nicht, wenn jemand sie in einem Nachtclub
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