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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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erzeugen. Schon eine so einfache Zeichnung bringt mich mit der gesamten Kunstgeschichte in Berührung. Einige Aspekte meiner armseligen Übung erinnern mich an antike Köpfe und Figuren. Aus den beiden Frauen, die nackt vor uns stehen, sind – schuldlos und von ungeschickter Hand gezeichnet – zwei Akte geworden.
    Beim zweiten Mal ist eines der Modelle ein untersetzter, muskulöser Mann namens Andy. Er soll sich auf den Rücken legen, ohne den Kopf aufzustützen. Obwohl das eher unbequem aussieht, wirkt er, als werde er gleich einschlafen. Er trägt eine eigenartige weiße Bandage auf der Nase – ob wegen einer Verletzung oder aus künstlerischen Gründen, ist mir nicht klar. Unser Kursleiter, Derek Batty, bittet uns, sein Gesicht in dieser Position zu zeichnen. Das sei eine „interessante psychologische Herausforderung“. Damit spielt er auf die sogenannte Thatcher-Illusion an. Peter Thompson, ein Psychologe an der Universität York, bewies 1980, dass Augen und Mund für die Gesichtserkennung entscheidend sind, indem er auf einem Foto der damals gerade gewählten Premierministerin Margaret Thatcher diese beiden Merkmale umdrehte. Wenn der Kopf selbst auch umgedreht wird, kann man Thatcher immer noch gut erkennen, auf den ersten Blick sieht alles richtig aus. Erst wenn der Kopf selbst richtig herum steht, sieht das Gesicht zum Gruseln aus. Lustig ist, dass Thompson in seinen Publikationen dem Yorker Ortsverband der konservativen Partei für die Bereitstellung des „anregenden Materials“ dankt. Aber wie herum auch immer, ein Gesicht ist viel schwerer zu zeichnen als ein Körper, das wird mir hier deutlich.
    Nach dem Kurs frage ich die Modelle, was sie empfinden, wenn wir ihre Körper und Gesichter so konzentriert anstarren. Es habe sie selbst überrascht, sagen sie, wie schnell sie ihre Umgebung vergessen. Das Nacktsein mache ihnen nichts aus. Sie denken an etwas anderes. Andy bereitet sich auf sein Turnier im Kickboxen vor, das erklärt auch die Bandage. Rosie, die Frau, die ich zu zeichnen versucht habe, denkt an ihre Doktorarbeit über das sowjetische Kino. Und dann sagt sie, „sobald Derek ein Körperteil anspricht, habe ich den Drang, es zu bewegen“. Das erinnert mich an Darwins Untersuchung des Errötens, das für ihn die unwillentliche Reaktion darauf war, dass jemand unserem Körper Aufmerksamkeit schenkt.
    Unsere Haut, die ganzen zwei Quadratmeter, mithin die Fläche des Betttuchs für ein Einzelbett, ist eine Projektionsfläche. Wie eine Kinoleinwand zeigt sie, wer und was wir sind. Sie ist auch eine Art Paravent, der Ausblicke verstellt und den Körper schützt. Biologisch gesehen ist die Haut eine bemerkenswerte Membran zwischen Festem und Luft, zwischen unserem Inneren und der Außenwelt. Durch die Haut empfinden wir Lust und Schmerz, und sie schützt uns vor allen möglichen Krankheitserregern. Sie macht aber auch unseren Gesundheitszustand, unser Alter und unsere ethnische Herkunft öffentlich sichtbar. Die Haut schützt und verrät uns zugleich.
    Diese Gleichzeitigkeit ist entscheidend. Bevor sich die moderne Medizin durchsetzte, garantierte die Haut die körperliche Unversehrtheit des Menschen. Sie bewachte den Körper eher, als dass sie selbst ein Körperteil gewesen wäre. Sie galt sogar teils als entbehrlich, vielleicht weil sie der Vervollkommnung des Inneren im Wege stand. Der biblische Hiob entkommt den Prüfungen Gottes undsieht: „An Haut und Fleisch klebt mein Gebein, nur das Fleisch an meinen Zähnen blieb.“ Und er verkündet erleichtert: „Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen.“ Manchen antiken Autoren zufolge gehörte die Haut aber zum Selbst. In den Metamorphosen erzählt Ovid, dass Marsyas nach einem verlorenen Wettstreit mit Apollo lebendig gehäutet wird und fleht: „Was entziehst du mir selber mich?“ Hier ist die Haut konstitutiv für das Selbst. Sie sorgt dafür, dass der Rest nicht auseinanderfällt. Der doppeldeutige Status der Haut – gehört sie zum Körper oder umgibt sie ihn? – bezeugt vielleicht, wie unwohl wir uns in unseren Körpern fühlen, seit wir Körper und Seele als Gegensätze betrachten.
    Unsere Sicht der Haut hat Folgen für die Medizin. Viele Krankheiten erkannte man zunächst nicht als Hautkrankheiten, sondern sah sie als Anzeichen eines tieferen, körperlichen (oder moralischen) Verfalls. Die Bibel zeichnet vor allem von der Lepra ein gruseliges Bild. Das Buch Levitikus beschreibt ausführlich, fast

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