Anatomien
fotografiert – wenn sie stillhält, aber nicht, wenn sie sich bewegt (ein Flitzer bei einer Sportveranstaltung ist kein Aktmodell), wenn sie sich an bestimmte Posen hält, zum Beispiel die Pudica-Haltung, aber nicht, wenn sie ihre Nacktheit offensiv zur Schau stellt. Die Absurdität der feinen Unterscheide wurde Mitte des 20.
Jahrhunderts in britischen Stripper-Clubs auf die Spitze getrieben. Damals durfte eine Stripperin nicht gleichzeitig nackt sein und sich bewegen. In komplizierten Vorführungen achtete man darauf, dass sie ihre Kleider immer dann abnahm, wenn andere (bekleidete) Tänzerinnen ihr Sichtschutz gaben. Am Ende der Nummer stand sie einen Moment lang totenstill und splitternackt im Scheinwerferlicht.
Der viktorianische Kunstkritiker John Ruskin war, so erzählt man sich, in seiner Hochzeitsnacht schockiert, als er seine schöne Braut Effie Gray nackt vor sich sah. Die Ehe wurde nicht vollzogen und bald geschieden. Ruskin sagte aus, „ihr Gesicht war zwar schön, aber ihr Körper konnte keine Leidenschaft erregen. Im Gegenteil, bestimmte Einzelheiten erstickten sie schon in Ansätzen.“ Effie sagte ihrem Vater, Ruskin „habe sich Frauen anders vorgestellt. Er nahm mich nicht zur Frau, weil er sich an jenem 10.
April vor mir ekelte.“ Warum nur? Eine groteske Missbildung, ein riesiges Muttermal, eine Hautkrankheit? Die Wissenschaft und die tratschende Öffentlichkeit wollen erfahren haben, dass den Kritiker die Schamhaare schockierten, die es auf den weiblichen Statuen, mit denen er sich beschäftigt hatte, nicht gab. Matthew Sweet bestreitet dieseUnterstellung in seinem Buch Inventing the Victorians und erinnert daran, dass Ruskin in seiner Studienzeit zahlreiche Nacktfotografien gesehen hatte, aber auch er erklärt nicht, was eigentlich das Problem war. Ruskin gefiel an Effies nacktem Körper etwas nicht. Vielleicht verwirrte ihn der Unterschied zwischen dem warmen, atmenden, geschmeidigen Fleisch eines lebenden Körpers und dem kalten Marmor, den er sonst betrachtete. Das ging wohl nicht nur ihm so. Arthur Thomson bekundet in seinem Anatomischen Handbuch für Kunststudenten seine Enttäuschung darüber, dass die weiblichen Pobacken nicht immer den glatten Kugeln antiker Statuen entsprechen. Fett komme „vor allem bei weiblichen Modellen vor, die ihre besten Zeiten hinter sich haben, und es verändert ihre Figur in einer Weise, die der zarten Vollkommenheit früherer Jahre so gar nicht entspricht“. Ruskin hätte vielleicht mehr mit den heutigen Sexmagazinen anfangen können, in denen, anders als in medizinischen Zeitschriften, Haare wegretuschiert und andere Unreinheiten beseitigt werden. Eine solche (un)züchtige Nachbearbeitung macht die Abbildungen freilich immer noch nicht zu Akten, aber sie sorgt dafür, dass die Modelle nicht einfach so nackt sind wie Frauen und Männer im wirklichen Leben.
Erst durch die Kleidung wird nackte Haut zur auffälligen Ausnahme, erst durch die Moral zum Problem. Das wurde mir bewusst, als ich zum ersten Mal an einem Aktzeichenkurs teilnahm. Am Anfang dieses Buches befand ich mich in einem Sektionssaal und versuchte, tote Körperteile nachzuzeichnen. Nun nähern wir uns dem Schlusskapitel, und so ist es vielleicht nur natürlich, dass ich mich jetzt wieder etwas Lebendem widme.
Natürlich mag es sein, leicht ist es deshalb trotzdem nicht. Etwa zwanzig Teilnehmer aller Altersgruppen haben sich in einem Gemeindezentrum in einem Vorort von Cambridge versammelt, gut zwei Drittel sind Frauen. Wir sitzen im Kreis auf billigen Plastikstühlen, die auf einem Hallenboden mit Basketballmarkierungen stehen. Zwischen uns befinden sich zwei junge Frauen, die sich, wie ich später erfahre, hier für ihr Studium etwas dazuverdienen. Siekönnen sich auf Stufen setzen und an Geländern festhalten, um interessante Haltungen einzunehmen. Ohne mit der Wimper zu zucken, ziehen sie sich aus und nehmen auf Bitten des Kursleiters ihre Positionen ein. Jeder von uns sucht sich ein Modell aus, das wir zeichnen wollen. Ich habe sofort Schwierigkeiten. Wie soll ich nur die Proportionen von Rumpf und Gliedmaßen treffen? Mein Bleistift zeichnet harte, scharfe Kanten, die der Biegsamkeit der Haut und den vielen Schattierungen des Körpers nicht gerecht werden. Bei den Schatten zeigt sich, dass mir die technischen Voraussetzungen fehlen. Im Lauf des Abends entdecke ich ein paar Tricks, zum Beispiel eine Linie etwas zu verlängern, um den Eindruck bewegter, belebter Muskeln zu
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