Anatomien
im 19.
Jahrhundert von den Brüdern Grimm gesammelten und ergänzten Märchen wie Der Froschkönig . Die heutigen Hollywood-Filme führen die Tradition mit den Mitteln der Computertechnik fort. Gelegentlich ist mit den Verwandlungen eine Lehre oder Moral verbunden, ähnlich wie mit der Erscheinung des Steinernen Gastes im Don Giovanni , dessen plötzliche Bewegung Don Juan klarmacht, dass er nicht ungestraft davonkommen wird. Andere Verwandlungen sind Befreiungen oder stehen für gesellschaftliche Veränderungen wie in den Shrek- Filmen. Immer sind es einschneidende Ereignisse.
Bekanntermaßen bezeichnete Marshall McLuhan alle Technologie als „Erweiterung des Körpers“. Häufig sehnen wir uns nach größeren Zerstörungskräften. Wenn wir uns wünschen, dass unsere Hand mehr kann, stellen wir sie uns gern als Waffe vor – denken Sie an Kinder, die sich ausgedachten Pulverrauch von dem Zeigefinger pusten, mit dem sie gerade ihren Freund erschossen haben. „Mein rechter Arm ist wieder heil“, jubelt der mörderische Barbier Sweeney Todd in Stephen Sondheims Musical und fuchtelt mit seinen Klingen. In Edward mit den Scherenhänden dienen die erweiterten Fähigkeiten wohltätigeren Zwecken. Tim Burtons Film basiert auf archetypischen Figuren wie dem Zauberlehrling, der unbeherrschbare Wesen auf den Plan ruft, und vor allem auf dem Struwwelpeter, der didaktischen Geschichte eines Jungen, der sich nie die Nägel schneidet oder die Haare kämmt. Burton hält sich an seine Vorbilder und zeigt einen Helden, der zunächst missverstanden wird und, nachdem er einige Wunder vollbracht hat, als das anerkannt wird, was er wirklich ist. Das zeigt, wie sehr die körperlichen Erweiterungen mit unserer Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängen.
Während sich bei Ovid in der Regel natürliche Wesen verändern, greifen heutige Metamorphosen auf technologische Mittel zurück. Aber ob natürlich oder technisch, alle Metamorphosen zeigen, dasswir uns immer wieder neu erfinden wollen. Mit dem Siegeszug der Biotechnologie werden unsere Körper mit den Mechanismen und Organismen verschmelzen, mit denen wir ihn ausstatten.
McLuhan stellte fest, dass die Technologie von uns absoluten Gehorsam verlangt. Unsere Körper müssen sich zum Sklaven machen, sonst kann sie uns nicht dienen. Mich interessiert, was das tatsächlich bedeutet. Daher treffe ich mich mit Jody Cundy, dem mehrfachen paralympischen Goldmedaillengewinner. Der ehemalige Schwimmer tut sich inzwischen als Radfahrer hervor. Von Geburt an fehlt ihm der rechte Fuß – sein Schienbein endet in zwei Zehen. Heute verwendet er eine ganze Reihe verschiedener Beinprothesen, wobei die für den Hochleistungssport angefertigten aus Kohlenstofffasern bestehen. Das ist die erste Erweiterung. Die zweite ist das ebenfalls aus Kohlenstofffasern bestehende Fahrrad. Körper plus künstlisches Bein plus Fahrrad erzielen einen Rekord nach dem anderen. Ich will wissen, wo Jody aufhört und wo die Technologie anfängt.
Dafür begebe ich mich ins Nationale Radsportzentrum nach Manchester, wo die Athleten für die Paralympischen Spiele 2012 trainieren. Vor dem Velodrom hängt ein riesiges Banner: „Chasing Immortality“ – auf der Jagd nach der Unsterblichkeit. Jody hat wuschelige, erdbeerblonde Haare und ein umgängliches Naturell. Da überrascht es nicht, dass er viel Geld mit Motivationsvorträgen verdient.
Schon mit drei Jahren erhielt Jody seine erste Prothese. Während er wuchs, mussten die Apparate alle sechs Monate angepasst werden. Die ersten waren komplizierte Metallgeräte, die mit einer Art Lederkorsett an den Oberschenkel gebunden und mit einem Gürtel an der Hüfte befestigt waren. „Mein Vater hatte dafür einen ganzen Werkzeugkasten“, erinnert sich Jody. Das aktuelle Gerät sei viel besser. Der Ansatz schmiegt sich an den Stumpf unter Jodys Knie, und eine Silikonschicht versiegelt die Verbindung luftdicht. „Erst mit den neusten Prothesen habe ich wirklich das Gefühl, ein Bein zu haben.“
Jody hat mit dem Radfahren angefangen, weil es zu seinem Trainingsprogramm als Schwimmer gehörte. Eines Tages beobachtete ihn ein Trainer auf seinen Bahnrunden und dachte, er sei ein Naturtalent. Die schwierige Entscheidung, die Sportart zu wechseln, hat Jody nie bereut. „Innerhalb von 18 Monaten bin ich vom blutigen Anfänger zum Preisträger geworden“, erzählt er, während er mir nichts, dir nichts sein „Geh-Bein“ gegen ein „Radfahr-Bein“ austauscht. Letzteres ist
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