Anatomien
mit einer Klammer ausgestattet, sodass er es direkt am Pedal befestigen kann.
Nach einem kurzen Gespräch mit seinem Trainer über das Tagesprogramm (ein paar Starts und ein paar Sprints) fährt er 40 Aufwärmrunden. Ein Motorrad gibt die Geschwindigkeit vor, die Radfahrer folgen im Windschatten. Jodys Rundenzeiten liegen bei 26 Sekunden. Es sieht alles ganz entspannt aus, aber wer nachrechnet, erkennt, dass er schon über 30 km/h drauf hat. In der letzten Runde erreicht er 60 km/h, wenn er sich wirklich anstrengt, bringt er es auf 70.
Jodys normales, linkes Bein ist außerordentlich gut trainiert, wie man das bei einem Profi-Radler erwarten würde. Seine Wade sieht aus wie ein fetter Schinken. Das künstliche Bein sieht wie ein echtes aus (mit Ausnahme natürlich der auffälligen Muskulatur), funktioniert aber anders. Daher muss Jody seinen Körper anders als seine Kollegen einsetzen und ihn sich anders vorstellen, um dieselben Ergebnisse zu erzielen. Ein Bahnradfahrer bringt das Pedal normalerweise mit seinem Fußgelenk und den Unterschenkelmuskeln vom untersten Punkt der Umdrehung wieder nach oben (der Fuß ist an das Pedal gebunden). Weil Jodys Knöchel nicht wie ein normales Drehgelenk funktioniert, muss er auf den sogenannten Lenden-Darmbeinmuskel in der Hüfte zurückgreifen. Die Prothese verschafft ihm keinen Kraftvorteil. Jody hält sein normales, linkes Bein für unermüdlich, denn das rechte Bein gibt immer zuerst nach, nicht wegen der Wadenmuskeln, sondern wegen des Quadrizeps im Oberschenkel. Laboruntersuchungen haben ergeben, dass Jodys rechter Lenden-Darmbeinmuskel zwar schneller ermüdet, aber stärker als der linke ist – weil es unterhalb des Knies keine Muskeln gibt, die ihm Arbeit abnehmen könnten.
Die meisten von uns denken über Radfahrbewegungen nicht nach. Jody muss sich damit beschäftigen – weil er sich verbessern will und weil er behindert ist. Wenn er sein linkes Bein herunterdrücke, „kommt eine große Einheit in Gang, aber rechts tut sich dann so was“ – er dreht umständlich seine Hüfte und hebt einen Oberschenkel. „Ich muss mich fast an der Innenseite des Beins festhalten, wenn das Bein hochkommt. Am schwersten sind die toten Punkte oben und unten. Da kann ich gar nichts rausholen.“ An diesem Punkten müsste das Fußgelenk sich drehen, und die Unterschenkelmuskeln leisten die meiste Arbeit. Vor allem beim Start sei das wichtig. Im Training versucht Jody, „den Körper auszutricksen, damit er hier möglichst schnell ist“, und diesen Trick wiederhole er dann immer wieder, in immer niedrigeren Gängen.
Jodys Paradedisziplin ist das Zeitfahren über einen Kilometer. Hier holte er in Beijing mit 1:05:466 Gold. Die Strecke ist psychologisch schwierig, weil sie lang genug ist, um den Körper leiden und in den Muskeln das Energie liefernde Glukose-Zerfallsprodukt Laktat entstehen zu lassen. Weil sich während des Rennens so viel Blut in seinen Beinen sammelt, muss sich Jody nachher hinlegen. Mit ernster Stimme sagt er: „Viel mehr schaffst du nicht, sonst brichst du zusammen.“ Das erinnert mich an Emma Reddings Tanzstudie über die Erschöpfung.
Jodys Körperbewusstsein verändert sich beim Radfahren. Normalerweise gibt die Biologie die Grenzen des Körpers vor: Der Körper hört da auf, wo nichts Körperliches mehr kommt. Das linke Bein endet bei den Zehen, das rechte direkt unter dem Knie. Aber wenn er sein künstliches Bein trägt, das sehr viel leichter als ein echtes ist, kommt ihm das Gewicht viel schwerer vor, weil es jetzt zu seinem eigenen Gewicht dazukommt. Sein Bein als Ganzes wirke jetzt wie ein Pendel. Bei niedrigerer Geschwindigkeit spüre er den Unterschied in den Beinen. Bei höheren Geschwindigkeiten werde das künstliche Bein ebenso wie das knapp sieben Kilogramm schwereRad zum Teil des Körpers. „Ich denke nie, da steckt etwas an meinem Stumpf“, sagt er. „Da das Bein aus demselben Material ist wie das Rad, wirkt das alles wie eine Einheit. Beim Beschleunigen ist der Eindruck am stärksten, und das Kraftgefühl setzt sich durch mein künstliches Bein bis ins Hinterrad fort. Das ist eine fantastische Erfahrung.“
Ich bin, weil es sich so ergab, mit dem Rad aus dem Zentrum von Manchester zum Velodrom gefahren. Bei meiner Abfahrt scheint die Sonne. Mein nicht gerade gut trainierter Körper und mein klappriges Fahrrad verbinden sich keineswegs zu einer harmonischen Einheit von Mensch und Maschine. Ich fahre mit einem Bruchteil von Jodys
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