Anatomien
und entblößte Brüste. (Ähnliche Zurschaustellungen können heute zum Freiheitsentzug führen: 2003 musste eine australische Abgeordnete das Parlament verlassen, weil sie angeblich die Regel verletzt hatte, „keine Fremden“ in den Sitzungssaal zu bringen – sie stillte ihr Baby. Die australische Kulturhistorikerin Ruth Barcan meint dazu: „Fremd war dem Hohen Haus wohl weniger das Baby als die Brust.“)
An der Haut lässt sich auch unsere Gesundheit ablesen. Der Essay über die an Einrichtung und Struktur der Haut sich zeigende unendliche Weisheit Gottes eines „Freundes der Medizin und der Chirurgie“ ist ein für die frühe Moderne typisches Sammelsurium: Der Autor beschreibt den Körper sorgfältig, erinnert den Leser aber immer wieder an seine göttliche Idealität. Jedes Kapitel endet mit einem Angriff auf den Atheismus. Alle Körperteile besäßen genaudie richtige Größe und Form, und alles wäre ganz furchtbar schiefgegangen, spekuliert der Autor moralisierend, wenn der Mensch irgendwie anders ausgesehen hätte. Weil unsere Haut nackt sei, seien unsere Nägel so vorzüglich zum Kratzen geeignet. Dann verkündet der anonyme Autor aus dem 18.
Jahrhundert, die Nägel seien durchsichtig, damit wir die Blutversorgung darunter im Blick behalten könnten. Sie seien wie Fensterchen in der Haut oder Warnleuchten am Ende der Finger, die bei Fieber blass, bei „Blutandrang“ oder hohem Blutdruck rot und bei Gelbsucht oder anderen Krankheiten gelb, grün oder schwarz würden.
Im wahrsten Wortsinn kann die Haut auch für uns werben. Da die Behörden uns noch immer mit blinder Bockigkeit in ethnische Gruppen einteilen (die Londoner Polizei verwendet so eigenartige Bezeichnungen wie „Asian & White“ für Menschen mit gemischtem ethnischem Hintergrund), erscheint es manchem folgerichtig, der Haut neue Merkmale hinzuzufügen, um sich sozial abzugrenzen. Zeichen auf der Haut hatten früher immer etwas Verruchtes, von den Brandmalen des Sklaven bis zu den Narben, die einen ausgepeitschten Kriminellen bis an sein Lebensende zeichneten. Heute gibt es die angenehmere Version des Stempels auf dem Handrücken, den der Besucher am Eingang eines Nachtclubs erhält. Die eigene Haut zu kennzeichnen gilt mittlerweile als schick. Noch nie war die Haut in der westlichen Welt so sichtbar, und noch nie haben wir sie bewusst so stark verändert. Zumeist mit dem Ziel, den anderen ein bestimmtes Selbstbild zu vermitteln.
Auf Wunsch meiner Verleger suche ich einen Tätowierungskünstler auf, der für sie auch schon Buchumschläge gestaltet hat. Die Umschläge bestehen nicht aus Haut, das sage ich gleich dazu, denn auch so etwas gab es schon, besonders für Strafregister oder Medizinbücher. Ein russischer Dichter benutzte sogar Haut von seinem eigenen Bein für den Einband einer Ausgabe seiner Sonette. Das Bein war amputiert worden, und so erhielt seine Geliebte immerhin einen Teil davon.
Das Studio heißt Into You . Der Name passt gut, wenn man sich die vielen vorgeschlagenen Penetrationen des Körpers vergegenwärtigt, die hier vorgenommen werden – Nadelstiche durch die Haut, aber auch sexuelle und emotionale Grenzüberschreitungen. Ich treffe also den Eigentümer, Duncan X. Der Name ist echt und selbst ein Zeichen. Sein Körper ist von Tätowierungen übersät: Totenköpfe, Särge, verschiedene Sprüche und oben auf der Stirn eine Art Freimaurersymbol. Sein Gesicht ist mehr oder weniger frei, mit Ausnahme einiger Tränen unter dem linken Auge. Auf den Handrücken ist wie auf einen Spickzettel die Handynummer tätowiert. Ich muss daran denken, dass jeder sich hin und wieder mal etwas auf die Hand schreibt.
Duncan findet die einzelnen Motive weniger wichtig als das Gesamtbild, das mal heller und mal dunkler, insgesamt recht symmetrisch (aber hier und da auch betont asymmetrisch) ist und voller verwirrender Details steckt, genau wie der Körper selbst. „Es sollte vor allem kein Bild sein“, sagt er über seine erste Tätowierung, die er sich als 21-Jähriger stechen ließ, vor allem um seine Eltern (beide Ärzte) zu schockieren. „Ein Tattoo war schon an sich eine Rebellion.“ Nach und nach überzog er seinen Körper damit. „Ohne käme ich mir ziemlich komisch vor. Die sind wie eine Rüstung, sie beschützen mich, aber es ist auch, als würde einem die Haut weggekratzt, damit der eigene Wesenskern sichtbar wird.“
Zu Duncans bemerkenswerten Arbeiten gehören Anspielungen auf mittelalterliche Karten und
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