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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Brueghel’sche Gemälde, aber auch Motive, wie sie uns von Matrosen und Gefängnisinsassen vertraut sind. Zu ihm kommen die Leute nicht, weil Tätowierungen (oder Abziehbilder, die nach Tattoo aussehen) gerade in Mode sind. „Meine Kunden wollen sich verändern. Ihr Leben ist im Umbruch begriffen, und das wollen sie sichtbar machen. Sie fühlen sich danach befreit“, erzählt er mir. Er fragt niemanden, warum er sich für ein bestimmtes Motiv entschieden hat oder was ein fremdsprachiger Schriftzug bedeutet. Psychologisch wichtig ist allein das Bild auf der Haut. Wie in vermeintlich fernen und urtümlichen Kulturen istsie ein Übergangsritus. Es gibt viele Gründe, sich nicht tätowieren zu lassen: Man wird das Bild nicht mehr los, es dauert lange, es tut weh, die Haut wird verletzt. Doch all das lässt sich ins Positive wenden. „Sie machen die Erfahrung, dass diese Schranken sie nicht aufhalten können.“
    Ebenso wie für alle, die sich nach Worten der Ärzte „selbst verstümmeln“ oder sich einer Schönheitsoperation unterziehen, gehört der Schmerz einfach dazu. Es ist eine weltliche Variante der Kasteiung. Die Kasteiung gehört zu vielen Religionen und kann verschiedene Formen annehmen, vom Fasten bis zur Geißelung oder zur Selbstverletzung durch Haken, mit denen man sich die Haut aufreißt. Dabei bleiben oft drastische Narben zurück. Der Schmerz wird als emphatische Form der Selbstverleugnung empfunden, die auch zum Vergnügen gehört, und die Narben zeigen anderen, wie fromm man ist. In unserer säkularen Welt drücken diese Handlungen ein Bedürfnis danach aus, die durch die zivilisierten Regeln unserer Umwelt abgestumpften Sinne wieder zu kitzeln. Wir wollen unsere individuelle Identität betonen, indem wir die naturgegebene und amtlich anerkannte Haut nach unserem Willen umgestalten. Wie schon immer ist die Haut sowohl unsere Verbindung zur Außenwelt als auch eine Hürde, die uns daran hindert, uns mit der Welt zu vereinigen.
    Wir haben nun eine Art Grenze erreicht. Wir stehen am Ufer unseres Insel-Selbst. Und doch: „Warum sollte unser Körper mit der Haut enden?“, so will die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway in ihrem Cyborg-Manifest wissen. Sie ruft uns auf, uns ein Leben außerhalb der Kategorien von Geschlecht, Rasse und anderen gesellschaftlichen Konventionen vorzustellen, die sich unserer Haut einschreiben. Haraway stellt fest, dass die Schale schon geplatzt ist: Schon heute laden wir andere „von Haut umgebene“ Lebewesen in uns ein, zum Beispiel durch Xenotransplantationen von Schweine- oder Affengewebe oder auch dadurch, dass wir uns bei Botox-Behandlungen Botulinum-Bakterien spritzen lassen. Diese dermalen Durchbrüche drücken offenbar unser Bedürfnis danach aus, dieGrenze unserer Haut zu überschreiten. Wird der homo clausus durchlässig? Und wenn ja, welche Freuden und welche Gefahren erwarten uns? Einige Möglichkeiten wollen wir uns im Schlusskapitel der Anatomien anschauen.

TEIL 3: DIE ZUKUNFT
Zu neuen Ufern
    Wie heißt es doch gleich in diesem Song? „I’m gonna live for ever / I’m gonna learn how to fly“. Das haben die tanzenden Kids in Fame natürlich nicht wirklich vor. Ihnen geht es um die Intensität des Augenblicks. Trotzdem hegen viele von uns diese Wünsche. Wir staunen, was der Körper alles kann, und wir wollen, dass er noch mehr kann. Wir träumen davon, unsere körperliche Leistungsfähigkeit, unsere Wahrnehmungsfähigkeit und unsere Lebenserwartung auszudehnen. Diese Träume beziehen sich eigenartigerweise vor allem auf unseren Körper und weniger auf unseren Geist. Nach Weisheit und Vorstellungskraft sehnen wir uns nicht so sehr.
    Die Träume sind nicht neu. Wir sind als Gottes Ebenbild erschaffen, doch stellen wir uns Gott und Götter als Übermensch-Versionen unserer selbst vor. Lakshmi, die Wohlstandsgöttin des Hinduismus, besitzt zweimal zwei Arme, und Brahma hat vier Köpfe. Guanyin, der Bodhisattva des Mitleids im ostasiatischen Buddhismus, übertrifft sie mit seinen elf Köpfen und tausend Armen noch bei Weitem. Der griechische Fruchtbarkeitsgott Priapus und sein ägyptischer Kollege Min haben eine Dauererektion, die griechische Muttergöttin Artemis hat jede Menge Brüste.
    Ovids Metamorphosen bezeugen so deutlich wie kaum ein anderes Werk den starken, anhaltenden Drang des Menschen, seinen Körper weiterzuentwickeln oder zu verwandeln oder ihn gegen einen anderen einzutauschen. Das Thema begegnet uns in Mary Shelleys Frankenstein und den

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