Anatomien
nun sehen die Roboter einfach gruselig aus. In diesem „Tal“ leben zum Beispiel Ron Muecks Dead Dad mit seiner bleichen „Haut“ und den hellen Körperhaaren oder die ultrarealistischen, „Reborns“ genannten Puppen, die einige Frauen bei sich tragen, um sich an erwachsen gewordene oder totgeborene Kinder zu erinnern. Wir nähern uns mit hoher Geschwindigkeit dem Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen, ob wir unsere Welt mit solchen Wesen teilen oder lieber umkehren wollen.
Die Geminoiden-Serie von Robotern, die Hiroshi Ishiguro von der Universität Osaka gebaut hat, ist derzeit dem Menschen am ähnlichsten. Ishiguros letztes Modell ist die Nachbildung seines dänischen Kollegen Henrik Scharfe. Von der Haut über die Haare und blinzelnde Augen bis zum grau melierten Stoppelbart verrät nichts mehr die metallenen Bestandteile des Roboters. Scharfes eigene Arbeiten untersuchen die Frage, inwiefern ein Mensch zu seinem künstlichen Ebenbild eine Vertrauensbeziehung aufbaut. Solche Innovationen haben sich vom traditionellen Roboterbild weit entfernt, aber wir sollten nicht vergessen, dass Roboter zunächst gar keine glänzenden Haushaltshilfen mit eckigen Armenund Beinen, Rollen und roten Augen sein sollten. Frankensteins Monster steckte auch kein Bolzen im Hals. Die erste illustrierte Frankenstein -Ausgabe erschien 1831, dreizehn Jahre nach der Erstausgabe des Textes, und zeigt eine dümmliche Gestalt mit originalgetreuen menschlichen Muskeln. Alles sieht organisch, nichts nach mechanischen Strukturen aus.
Im Allgemeinen erfüllt die Technologie nicht genau die Erwartungen, die wir an sie stellen. Wir wollen fliegen? Flügel lassen wir uns nicht wachsen. Stattdessen erfinden wir Google Earth. Selbst ein künstliches Herz sieht eher wie ein Kolbenmotor und weniger wie ein echtes Herz aus. Während meiner anatomischen Zeichenübungen entdeckte ich zu meinem Erstaunen ein in der Brusthöhle einer Leiche steckendes Stück Plastikschlauch. Die gerade Linie und die gleichmäßige Farbe dieses Einsatzes unterschied sich deutlich von den vielen unterschiedlichen Oberflächen der umliegenden, miteinander verwobenen Blutgefäße.
Engel und Roboter regen uns zum Nachdenken über die Grenzen zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem (oder Außermenschlichem) an. Wo könnten sie liegen? Bei den klar erkennbaren, technologischen Prothesen wie Jodys Fuß? Oder bei Robotern mit Dreitagebart? Oder schon dort, wo Biologie noch Biologie ist? Unsere Antwort richtet sich danach, womit wir uns wohlfühlen (oder wobei uns am wenigsten unwohl wird). Interessant ist, dass potenzielle Organempfänger lieber etwas Mechanisches hätten, während Chirurgen auf Gewebe oder Organe nichtmenschlicher Lebewesen setzen – wenn auch nur, weil sie sich mit biologischem Gewebe am besten auskennen.
Die Mischwesen, die in illuminierten mittelalterlichen Manuskripten, in Bestiarien und als Wasserspeier an gotischen Kirchen erschienen und sowohl Menschliches wie Arme und Beine, Augen und Gesichter als auch Tiermerkmale wie Flügel und Schwänze besaßen, waren nicht einfach Darstellungen exotischer Tiere, von denen man irgendwie gehört hatte, und ganz sicher auch keine Symbole der heute so gern bejubelten Artenvielfalt. Vielmehr sollten siedazu beitragen, den Menschen selbst besser zu erklären. Durch die erstaunlichen Hybridgeschöpfe wollte die vormoderne Welt psychologische Veränderungen darstellen und verstehen. Bei all diesen Bildern müssen wir uns klarmachen, dass eine bestimmte Figur zwar anders aussieht als zuvor, im Grunde aber noch dieselbe ist. Das neue Aussehen drückt einen neuen Geisteszustand aus. Das ist auch in Ovids Metamorphosen so. Wenn Jupiter Io vergewaltigt und Juno Io dann als Ehebrecherin bestraft, indem sie sie in eine weiße Färse verwandelt, ist sie weiterhin so schön wie zuvor, doch sieht man nun, was für ein Tier (im doppelten Wortsinn) sie ist. Sie ist noch Io, sie erkennt ihren Vater, aber sie kann ihm nicht mehr sagen, wer sie ist, sie kann nur noch ihre Hufabdrücke in Form der Buchstaben IO hinterlassen. In Homers Odyssee vertändeln die Männer auf der Rückfahrt nach Ithaca ein Jahr im Haus der Circe, die sie in Schweine verwandelt. Sie sehen aus und verhalten sich wie Schweine, obwohl ihre Wahrnehmung und ihre Erinnerungen dieselben sind wie zuvor.
In Verwandlungsgeschichten gelten strenge Regeln. Sonst wüssten wir nicht, welche Veränderungen wir als bemerkens- und erzählenswert empfinden sollten.
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