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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Die Regeln stecken auch den Rahmen für moralphilosophische Interpretationen ab. Wenn ein Werwolf ein Mensch in einem Wolfskörper ist (der weiterhin menschliche Augen besitzt), dann unterliegt er auch denselben moralischen Bestimmungen. Wird man zum Mörder, wenn man einen Werwolf tötet? Ist ein Werwolf, der einen Menschen frisst, ein Kannibale? In der fantastischen Verfremdung konnten die Menschen beispielsweise (im Rahmen der jeweiligen Epoche) über den richtigen Umgang mit einem psychologisch zerrütteten Menschen nachdenken, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat.
    Nicht nur bei psychologischen Störungen, auch nach einer Xenotransplantation sind Körper und Geist nicht mehr im Einklang. 1984 wurde der vierjährigen Fae im kalifornischen Loma Linda University Medical Center das Herz eines Pavians eingepflanzt.Schon kurz danach kritisierten manche die Operation als „unethisch“ und „naturwidrig“, obwohl man daraus viel über Organtransplantationen an Kindern lernen konnte. Mit Ovid könnte man sagen: Ein Pavian ist dem Menschen biologisch gesehen so ähnlich, dass sich ein Operationsversuch lohnte, aber zugleich auch so unähnlich, dass seine Tötung nicht als Mord gelten musste.
    Sorgen bereitet uns, dass Ärzte bei vielen Operationen auf Schweine zurückgreifen, also auf ein Tier, das uns, wie wir seit Homer wissen, kulturell eng verbunden ist. Das Tier erinnert uns nicht zuletzt durch seine Nacktheit und seine Fleischlichkeit an die schlechteren Seiten unserer selbst, an Völlerei und Promiskuität. Wissenschaftler verwenden Schweine gern, weil diese uns, was die Größe der Organe und das Immunsystem betrifft, recht ähnlich sind, sich schnell vermehren und weil sie ohnehin zum Verzehr gezüchtet werden, weshalb die ethischen Hürden niedriger liegen als beispielsweise beim Affen. Kurz gesagt: Das Schweinetabu ist schwächer als das Affentabu. „Aus Laiensicht ist das kaum nachvollziehbar“, so die Anthropologin Lesley Sharp, denn wir sähen in Schweinen vor allem Schmutz und Unreinheit. Wenn doch Schweine in einigen Religionen weiterhin nicht verzehrt werden dürfen, wie können wir dann guten Gewissens einen Teil ihres Gewebes in uns selbst aufnehmen? Unsere biologische Nähe zum Schwein verursacht auf kultureller Ebene Probleme.
    Wer die Angehörigen eines verstorbenen Organspenders mit dessen Entscheidung versöhnen will, erzählt ihnen gern, der Tote „lebt in einem anderen Menschen“ fort. Daher fragen sich viele zu Recht, wie viel von einem tierischen Spender in einem Menschen „weiterlebt“. Umfragen ergeben ein klares Meinungsbild. Ein Befragter sagte, es sei „schon eigenartig“, sich vorzustellen, man hätte das Herz eines Pavians. „Werde ich dann die Zähne fletschen und meinen Hintern entblößen?“ Wenig überraschend ist auch, dass viele Herzklappenempfänger zwar gern über ihre Operation sprechen, aber verschweigen, dass die Spenderherzklappe von einem Schwein stammt.
    Dass unsere alte Begeisterung für menschlich-tierische Mischwesen ausgerechnet in dem Moment erstirbt, in dem sie medizinisch möglich wurden, hat sich die Wissenschaft zu einem guten Teil selbst zuzuschreiben. Wir haben gesehen, dass die Pioniere der Medizin im Lauf der Zeit auf alle möglichen menschlichen und tierischen Spender und Empfänger zurückgriffen. Der vielleicht berüchtigtste von ihnen war der Erfinder der „Affenhoden“-Behandlung, Serge Voronoff, dessen bizarre Aktivitäten einige hervorragende Satiren, einen Song von Irving Berlin und einen wenig einladenden Cocktail aus Absinth und Gin inspirierten.
    Voronoff wurde 1866 in Russland geboren und führte seine Untersuchungen während seiner langen Chirurgenkarriere in Frankreich durch. Seine Ideen kamen ihm aber in Ägypten. Während einer ausgedehnten Reise als gut 30-Jähriger „stellte er eine große Anzahl persönlicher Beobachtungen an männlichen Kastraten an“. Seiner Einschätzung nach sahen diese alle älter aus, als sie tatsächlich waren, und sie starben recht jung. Er schloss auf einen Zusammenhang zwischen Zeugungsorgan und Lebenserwartung.
    Voronoff glaubte, das Leben eines Mannes durch die Transplantation von Gewebe aus den Geschlechtsorganen eines Jüngeren verlängern zu können. „Undenkbar“ sei es, menschliche Hoden zu verwenden – das sei „Verstümmelung“, bemerkte er offenbar mit leichtem Bedauern. Aber da Vieh oft kastriert werde, sei trotzdem genügend „Material“ vorhanden. In ersten Experimenten

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