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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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produziert hat. Quetelet sammelte als Erster systematisch Daten über Größe und Gewicht und stellte 1835 in einem Buch den Begriff des Durchschnittsmenschen (l’homme moyen) vor. Es gelang ihm sogar, Menschen je nach ihrer Größe als schwer oder leicht einzustufen – damit war er der Erfinder des Body-Mass-Index.
    Mit Quetelet begann das große Datensammeln. Bald nannte man das von ihm etablierte Forschungsfeld Anthropometrie. Indem die Statistiker erkannten, dass jeder Mensch anders ist, und ihre Schlüsse daraus zogen, gaben sie indirekt zu, dass jeder Mensch gleich viel wert war, womit sie sich letztlich vom Konzept eines Idealmenschen verabschiedeten.
    Die von ihnen erhobenen Daten waren freilich viel zu wertvoll, um sie allein der Wissenschaft zu überlassen. Im Museum der Pariser Polizeipräfektur befindet sich der Nachbau eines ungewöhnlichen Fotoateliers. Dort stehen nicht nur die im 19.

Jahrhundert üblichen riesigen Fotoapparate, sondern auch zahlreiche Messschieber, Lineale und andere Werkzeuge, mit denen Menschen nach dem Fotografieren gleich auch vermessen werden konnten. In diesem Atelier kreierte Alphonse Bertillon die ersten wissenschaftlich fundierten Personalausweise. Sie umfassten neben zwei Fotos (eins von vorn und eins im Profil) auch wichtige Körpermaße – und einige nicht so wichtige, darunter allein sechzehn Angaben zur Form des Ohres. Bertillons Angehörige mussten als Versuchsobjekte herhalten. Sein eigener Ausweis vom 14.

Mai 1891 zeigt den 38-Jährigen mit gestutztem Bart, kurzem, drahtigem Haar und hoher Stirn. Sein Kopf wirkt etwas zu groß für seinen Körper. Auf der Karte steht denn auch, dass sein Kopf 19,4 cm lang war, während er von der Gürtellinie aufwärts 78 cm maß und einen Brustumfang von 95,2 cm hatte. Sein linker Fuß war 27,4 cm lang. Bertillons Familie lag eine solche Arbeit offenbar im Blut: Sein älterer Bruder war der ranghöchste Pariser Statistiker. Sein Vater war Mitbegründer der École d’anthropologie de Paris. Und sein Großvater hatte für Quetelet gearbeitet und das Wort Demografie erfunden. Bertillons Innovationen ermöglichten ihm einen steilen Aufstieg. 1879 war er als einfacher Angestellter in den Dienst der Stadt Paris getreten, weniger als ein Jahrzehnt später leitete er den polizeilichen Erkennungsdienst. In der Zwischenzeit hatte er noch das Fotografieren am Tatort eingeführt. Bald gingen Polizeibehörden auf der ganzen Welt zur „Bertillonage“ über. Zwar reichte diese Methode allein nicht dazu aus, einen Schuldigen zweifelsfrei zu überführen, denn ein der Polizei noch unbekannter Bürger konnte dieselben Maße besitzen, doch immerhin konnte man einige Verdächtige ausschließen, weil ihre Maße nicht den Zeugenaussagen entsprachen.
    Erst die Entdeckung, dass Fingerabdrücke bei jedem anders sind, erlaubte es schließlich, Verdächtige aufgrund eines Körpermerkmals zu überführen. Nach dem indischen Aufstand von 1857 machte sich der britische Kolonialverwalter von Bengalen, Sir William Herschel, noch unbeliebter, als er ohnehin schon war, indem er Vertragsarbeiter zwang, Dokumente per Handabdruck zu unterzeichnen. Herschel hielt jahrelang auch seine eigenen Fingerabdrücke fest, um nachzuweisen, dass sie sich nicht veränderten. Einer der führenden Naturwissenschaftler seiner Zeit, Francis Galton, wurde auf ihn aufmerksam. Galton war, selbst für die damaligen Verhältnisse, ein vom Messen Besessener. Im Laufe seiner rastlosen siebzigjährigen Karriere entwarf er die ersten Wetterkarten, Fragebögen und Intelligenztests. Er erfand eine tragbare „Taschenregistratur“, die den Geräten ähnelt, mit denen Flugbegleiter heute Passagiere zählen, und mit deren Knöpfen man fünf verschiedene Variablen verarbeiten konnte. Laut der Zeitschrift Nature können Wissenschaftler seitdem „in einer Menschenmenge statistische Daten erheben, ohne Aufsehen zu erregen“. Galton konnte nicht stillsitzen. Eine seine Schriften trägt den Titel: „Bemerkungen über die Wellen im Badewasser“. Während eines langweiligen Vortrags in der Royal Geographical Society versuchte er auf der Basis von Beobachtungen über die Nervosität der Zuhörer einen Langeweile-Index zu entwickeln. Wir verdanken ihm nicht nur das eine oder andere Messergebnis, sondern zahlreiche Fortschritte auf dem Gebiet der Statistik und der Datenverarbeitung.
    Indem er zahllose Abdrücke, darunter auch Herschels, mithilfe eines Pantographen untersuchte, den er gebaut

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