Anatomien
hatte, um Einzelheiten von Mottenflügeln aufzunehmen und zu vergrößern, konnte er nachweisen, dass keine zwei Fingerabdrücke identisch waren. Galton und Bertillon standen in Verbindung (beide hatten übrigens stets ihre nach Bertillons System ausgestellten Ausweise bei sich), und es war nicht zuletzt Galton, der der britischen Polizei die Einführung der Bertillonage empfahl. Lange wurden Fingerabdrücke lediglich hin und wieder herangezogen, um die Unschuld eines Verdächtigen zu beweisen, doch Galton begriff, dass sie dauerhaft eine entscheidende Rolle spielen konnten. Im Jahre 1902, als das Kammermädchen Rose Guilder nach einem Einbruch in dem Haus ihres Arbeitgebers einen Daumenabdruck auf frischer Farbe bemerkte, zog schließlich ein Gericht Fingerabdrücke als Beweis heran, um den Täter zu verurteilen. Galton verfolgte derweil sein eigenes Forschungsvorhaben und sammelte Tausende von Fingerabdrücken, in der Hoffnung, aus ihnen verwandtschaftliche Beziehungen ablesen zu können – dies allerdings vergeblich.
Galton war ein glühender Verehrer seines Cousins Charles Darwin. (Es ist wohl kein Zufall, dass eines seiner vielen Bücher Erbliche Genialität heißt.) Darwin untersuchte die Tierwelt, Galton seine Mitmenschen. Auch die Frauen. Als junger Mann reiste er 1850 mit einer Gruppe von Missionaren durch Afrika. Ihm fiel die Frau eines Dolmetschers auf, „eine charmante Person, nicht nur der Figur nach eine Hottentottin, sondern eine wahre Venus der Hottentotten“. Er wollte sie natürlich vermessen. Aber das war gar nicht so einfach. „Ich sprach kein Wort ihrer Sprache und hätte der Dame also nicht im Geringsten verständlich machen können, worauf ich aus war.“ Auch wagte er nicht, den Dolmetscher einzuschalten. Als er aber beobachtete, wie sie sich „in alle Himmelsrichtungen drehte und wendete wie nur eine Dame, die bewundert werden will“, sah Galton, dass die Lösung in seinen Instrumenten lag. Er nahm seinen Sextanten zur Hand, positionierte sich in keuscher Entfernung und zeichnete „ihre Figur auf, aus jeder Perspektive, oben und unten, längs und schräg, und ich hielt alles sorgfältig fest, weil ich Angst hatte, einen Fehler zu machen. Dann griff ich mutig zum Maßband und maß, wie weit ich von ihr weggestanden hatte, und da mir nun Basis und Winkel vorlagen, war der Rest eine Frage von Trigonometrie und Logarithmen.“
1884 richtete Galton auf der Internationalen Gesundheitsausstellung in London ein Labor ein und sammelte Daten von Freiwilligen. Ihn interessierten „Sehschärfe, Hörgenauigkeit, Farbsinn, Augenmaß, Lungenvolumen, Reaktionszeit, Zieh- und Drückvermögen, Schlagkraft, Spannweite der Arme, Größe (stehend und sitzend) und Gewicht“. Mittels neuer fotografischer Techniken erstellte er „zusammengesetzte“ Porträts: Er legte verschiedene Aufnahmen übereinander, um einen Durchschnitt erkennen zu können. Dadurch versuchte er – wiederum vergeblich – das Durchschnittsaussehen gemischter Bevölkerungsgruppen zu ermitteln. Galtons anthropometrisches Projekt war ambitioniert – wir werden später darauf zurückkommen.
Die Wissenschaft braucht aber keine irreführenden Synthesen wie Galtons Zusammensetzungen, sondern „typische“ Exemplare. Zoologen bewahren ein Exemplar einer jeden Gattung auf und nennen es deren Holotypus. Alle weiteren Exemplare werden mit diesem verglichen, um festzustellen, ob sie zur selben Gattung gehören. Wer eine Gattung zuerst beschreibt, darf den Holotypus auswählen. Holotypen sind über die Universitätsmuseen der Welt verstreut.
Aber wo ist der Holotypus des Menschen? Gibt es ihn? Eigenartigerweise nicht. Teils liegt das daran, dass Holotypen erst seit 1931 für neu zu beschreibende Gattungen vorgesehen sind, teils weil es nie wissenschaftliche Zweifel daran gab, ob jemand ein Mensch ist oder nicht. (Rassisten sehen das anders, wobei ihre Vorbehalte gerade darauf gründen, dass verschiedene Rassen sich mischen können – womit wiederum unsere gemeinsame Menschlichkeit bewiesen ist.) 1959 wurde jedoch der schwedische Naturforscher Carl von Linné für die Position des Holotypus nominiert, obwohl er damals schon 181 Jahre lang tot war. Linnés Systema Naturae von 1758 ist der Ursprung unserer biologischen Nomenklatur. Enthalten ist in dem Werk auch eine Beschreibung unserer eigenen Gattung mit dem von Linné erfundenen Wort Homo sapiens. Es gab auch schon andere Vorschläge. Kürzlich wurde bekannt, dass der amerikanische
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