Anatomien
Paläontologe Edward Drinker Cope sich selbst für die Position des Holotypus vorschlug. Kurz vor seinem Tod 1897 verkaufte er dem American Museum for Natural History seine Fossiliensammlung und bestimmte, dass seine eigenen Überreste im Hinblick auf die ungewöhnliche Bewerbung konserviert werden sollten. Diese war wohl der letzte Akt in der Auseinandersetzung zwischen Cope und seinem paläontologischen Gegner in den sogenannten Bone Wars , Othniel Charles Marsh. Cope wollte auch, dass sein Gehirn nach dem Tod gewogen werde, um es mit dem Gehirn von Marsh zu vergleichen – aber der nahm die Herausforderung nicht an. Copes Bewerbung scheiterte, weil sie zu spät bekannt wurde. Linné hatte inzwischen gewonnen, allerdings bleiben seineÜberreste wohl vorerst in ihrer Ruhestätte im schwedischen Uppsala.
Die lange Suche nach einem verbindlichen Standardbild des Menschen endet wohl zunächst einmal mit dem Visible Human Project. Seit Vitruv und Polyklet hat sich viel getan, und heutzutage geht es um Männer und Frauen – wie gewohnt kommt allerdings der Mann zuerst.
Das Visible Human Project wurde 1988 auf Initiative der Medizinischen Nationalbibliothek der Vereinigten Staaten als Reaktion auf zwei neue Technologien ins Leben gerufen, nämlich erstens die Möglichkeit, menschliches Gewebe einzufrieren, ohne es zu beschädigen, zweitens die Fortschritte in der digitalen Bildbearbeitung. Eine menschliche Leiche sollte aufgeschnitten und dann fotografiert werden, damit man das erste detaillierte visuelle Grundlagenwerk über das Innere eines wirklichen Menschen zusammenstellen könne.
Wie bei Rembrandts anatomisierten Körpern und vielen anderen zuvor suchte man auch hier einen verurteilten Verbrecher aus. Dem aus dem texanischen Waco stammenden Joseph Paul Jernigan war 1993 eine tödliche Dosis Kaliumchlorid gespritzt worden; zwölf Jahre zuvor hatte ein Gericht ihn des Raubes und des Mordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Einer Anregung des Gefängnispriesters folgend spendete Jernigan seinen ganzen Körper der Wissenschaft – als Organspender kam er ohnehin nicht infrage, da sein Körper durch die Todesspritze vergiftet würde. Jernigan bestand die „Auswahlprüfung“, da er keine entstellenden Krankheiten hatte und nie groß operiert worden war. Durch beides wäre er anatomisch nicht mehr repräsentativ genug gewesen. Trotzdem war Jernigan nicht ganz perfekt. Ihm fehlten der Wurmfortsatz des Blinddarms und ein Zahn. Nur wenige Stunden nach der Hinrichtung flog man Jernigans Körper zur University of Colorado, um zunächst einmal ein MRT zu machen. Dann wurde der Körper eingefroren und nochmals gescannt. Nachdem er fest geworden war, schnitt man ihn entlang derselben Achsen wie beim MRT in millimeterdünne Scheiben. Die zum Vorschein kommenden Flächen fotografierte man wiederum. Das jeweils abfallende Gewebe zerfiel zu „Sägemehl“.
Im November 1994 veröffentlichte die Medizinische Nationalbibliothek die Bilder auf einer Webseite. Insgesamt erscheint Jernigan als etwas übergewichtiger Mann mit kahlrasiertem Kopf und breitem Hals. Er war an vielen Stellen tätowiert und leicht wiedererkennbar. Der aufgeschnittene Körper sieht für das ungeschulte Auge verblüffend aus, wie ein Stück Fleisch in der Metzgerei. Im Unterschied zu den präparierten Leichen, die ich in Oxford sah, konnte ich in all dem dunkelroten Gewebe kaum die wichtigsten Organe ausmachen. Wer die dreidimensionale Komplexität des Körpers auf eine Reihe von Oberflächen reduziert, macht ihn zu einer Art Landkarte, deren namenlose rote Inseln in einem Ozean aus gelbem Fett schwimmen.
Ein Jahr später kam ein weiblicher „visible human“ hinzu. Ihren Namen kennen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie eine „Hausfrau aus Maryland“ war, die im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Ihr Kopf ist recht kantig, ihr Mund breit, ihr Kinn rund. Auch sie hat eigentlich keinen Hals. Die Medizinische Nationalbibliothek hatte angenommen, dass das Visible Human Project vor allem für Medizinstudenten relevant sein würde, aber auch viele andere fanden es faszinierend und produzieren seitdem ihre eigenen „Flugaufnahmen“ von Reisen durch Blutbahnen sowie Atlanten jener Körperteile, auf die sie spezialisiert sind. Auch die Öffentlichkeit nimmt regen Anteil. Medien und sogar Wissenschaftler, die am Visible Human Project beteiligt sind, nennen die beiden Personen gern „Adam und Eva“. Adam erhielt viel Aufmerksamkeit,
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