Anatomien

weil er der Erste war, weil wir seinen kriminellen Lebensweg kennen und weil viele denken, dass er einen Teil seiner Schuld wettgemacht hat, indem er nun indirekt andere Leben rettet. Seine Strafe zerstörte ihn, doch nun wird er digital rekonstruiert, beinahe im Sinne einer Reinkarnation, einer „neuen Fleischwerdung“. Ähnliche Geschichten gibt es über die Frau nicht. Was wenige wissen: Für die Forschung ist sie wichtiger. Die Aufnahmen von ihr sind jünger, undsie wurde in dünnere Scheiben geschnitten. Daher gibt es dreimal so viele Bilder von ihr, und somit stehen uns sehr viel mehr Einzelheiten zur Verfügung. Wie in der Bibel bleibt „Adam“ unser erster Bezugspunkt. Der größte Teil der Forschung beschäftigte sich mit ihm, während „Eva“ vor allem „für die reproduktive Anatomie“ herangezogen wurde.
    Nach Einschätzung von Lisa Cartwright, einer amerikanischen Expertin für visuelle Kultur und Geschlechterstudien, „wird das Visible Human Project wohl viele Jahre lang der Maßstab für die Anatomie weltweit bleiben“. Es erbrachte keineswegs nur sichtbare Aufnahmen. Die zerschnittenen und wieder zusammengesetzten Körper können für Experimente herangezogen und manipuliert werden. Sie sind eine virtuelle Umgebung, in die man eintauchen kann. Und natürlich träumt man davon, sie eines Tages zu animieren.
    Allerdings hat das Visible Human Project auch seine Schwächen. Da es das Körperinnere so zeigt, wie es ist, lässt es sich paradoxerweise nicht immer gut für Lehrzwecke nutzen. Aufgrund der großen Detaildichte ist das Wesentliche schwer zu erkennen. Daher kann es die sauberen, farblich differenzierenden Abbildungen medizinischer Lehrbücher nicht ersetzen, nur ergänzen. Junge Ärzte werden den Körper im Krankenhaus auch nicht unbedingt in horizontalen Scheiben vor sich sehen. Die Bilder in der Praxis sind oft aus anderen Winkeln aufgenommen, der Körper ist zuweilen anders positioniert usw. Eigenartigerweise hat der Laie vielleicht mehr von den Bildern. Sie geben uns einen neuen Einblick ist das, was wir wirklich sind.
    Insofern ist das Visible Human Project fast so etwas wie das Gegenstück zu dem ungleich bekannteren Human Genome Project. Während das entschlüsselte menschliche Genom uns mit einer unlesbaren Liste von Buchstaben und Zahlen konfrontiert, die Tausende von Genen und die genaue Reihenfolge der Milliarden von Aminosäuren beschreiben, aus denen die DNA besteht, zeigt uns das Visible Human Project zwei echte Menschen. Der australischenSozialwissenschaftlerin Catherine Waldby zufolge wollen beide Projekte „ein Archiv aller Informationen über den Menschen“ sein, wobei nur das Visible Human Project im eigentlichen Wortsinn „spektakulär“ sei. Wenn der menschliche Körper tatsächlich „das beste Bild der menschlichen Seele“ ist, wie Wittgenstein vermutete, ist es womöglich der bedeutendste Schritt auf dem Weg zu unserem lang gehegten Wunschtraum, das Selbst sichtbar zu machen.
    Wenden wir uns nun einer Scheibe Menschenfleisch zu.

Fleisch
    Was kostet ein Pfund Fleisch?
    Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig hält es für wertvoll: „Das Pfund Fleisch, das ich verlange, / Ist teuer gekauft, ist mein, und ich will’s haben.“ Bekanntermaßen braucht der auf die Ankunft seiner Schiffe wartende Kaufmann Antonio Geld. Trotzdem unterstützt er seinen mittellosen Freund Bassanio bei dem Unterfangen, nach Belmont zu reisen und die liebenswerte (und wohlhabende) Portia zu betören. Er hat Bassanio beauftragt, sich die nötigen 3000 Dukaten zu besorgen, für die er, Antonio, bürgen werde. Bassanio trifft den jüdischen Geldverleiher, und man wird handelseinig. Shylock erhebt keine Zinsen. Stattdessen verlangt er im Falle der Zahlungsunfähigkeit ein Pfund von Antonios eigenem Fleisch. Shylock und Antonio sind Feinde und Konkurrenten, zumal Antonio Shylock das Geschäft kaputt macht, indem er, christlicher Lehre gemäß, seinen Freunden zinslose Darlehen gewährt. Als Antonio, der seine Schiffe verloren glaubt, das Geld tatsächlich nicht rechtzeitig zurückzahlen kann, kommt die Sache vor Gericht. Der verzweifelte Bassanio bietet Shylock an, ihm nicht nur die einfache, sondern die doppelte Summe zurückzuzahlen (er hat Portia inzwischen geehelicht, daher stehen ihm 6000 Dukaten zur Verfügung). Shylock würde aber nicht einmal die sechsfache Summe annehmen. „Ich will mein Pfund“, beharrt er.
    Wie sähe es ganz praktisch mit diesem Pfund Fleisch aus?