Anatomien
Milliarden Fettzellen. Wenn man zunimmt, erhöht sich deren Zahl zunächst einmal nicht. Vielmehr speichert jede Zelle einfach mehr hochenergetische Lipide, und zwar bis zu viermal so viele wie zuvor. Erst wenn die Gewichtszunahme eine bestimmte Schwelle überschreitet, teilen sich diese Zellen und neue entstehen. Dann wird das Abnehmen schwerer. Fett hat auch andere Funktionen, zum Beispiel stellt es Fettsäuren bereit, die die Zelltätigkeit kontrollieren, und Hormone, die verschiedene Körperfunktionen regulieren.
Fett ist mehr als nur ein Polster. So viel zumindest ist klar, auch wenn wir über unser Fett deutlich weniger wissen als über Fleisch, Knochen und Organe. Trotzdem nehmen wir es oft so wahr. Wir sehen entweder zu viel davon oder gar keines. Es erscheint uns formlos und schwer beherrschbar, wie eine große, homogene Masse, unstrukturiert und vielleicht sogar endlos. Wir wissen nicht, was wir damit sollen, und trotzdem ist es da und macht sich in unserem Körper breit – auf Kosten der Idealgestalt. Überall setzt es an und macht sich über den altklugen homo clausus lustig.
Als einer der Ersten wandte sich Plinius d.
Ä. in seiner Naturgeschichte gegen das Fett, das er für sinnlos hielt. Fleisch könne etwas berühren und spüren, aber eine Fettschicht sei ein schwammiges Hindernis und störe unsere Verbindung zur Welt. Auch heute gilt Fett weniger als notwendige Ergänzung des Fleisches denn als sein Gegenteil. Einige setzen sogar Fettabbau mit Muskelaufbau gleich. Ein Schönheitschirurg erzählte mir, dass immer mehr Männer sich schmale Streifen Bauchfett entfernen lassen, um den Eindruck eines Sixpacks zu erwecken, also eines gut trainierten rectus abdominis . Dieser große, flache Muskel verläuft quer über den Unterleib. Jebesser er ausgebildet ist, umso klarer zeichnen sich drei waagerechte Linien ab.
Auch wenn das Fett entfernt werden kann, die damit zusammenhängenden Fragen bleiben. Brauchen wir es nicht doch? Im Operationssaal fällt es unter Klinikabfälle. Da es den Körper aber nicht durch eine der dafür vorgesehenen Öffnungen verlässt, ist es keine Ausscheidung. Wenn es gewaltsam abgesaugt oder weggeschnitten werden muss, hat es doch offenbar eine Funktion, genau wie unser Fleisch. Aber wenn es erst einmal weg ist, will es auch niemand wiederhaben, und es ekelt uns genauso an wie andere Körperabfälle.
Blut, Stuhl und Urin unterliegen komplizierten gesellschaftlichen Regeln und Tabus. Was das Fett angeht, kennen wir solche Regeln nicht. Künstler finden diese Unsicherheit spannend. Joseph Beuys verwendete bekanntermaßen in seinen Werken Fett. Zwar war es Tierfett, aber ganz offensichtlich sollten wir es als unser eigenes interpretieren. Beuys begründete seine Entscheidung mit der ungewöhnlichen Behauptung, er sei 1944 während eines Luftwaffeneinsatzes über der Krim abgeschossen worden und von Tataren dadurch gesund gepflegt worden, dass sie ihn in Fett und Filz wickelten.
Das Fettabsaugen wird immer beliebter, deshalb müssen wir uns mit der kulturellen Bedeutung des Fettes aufs Neue beschäftigen. Was bedeutet seine Entfernung? Und was repräsentiert es, wenn es erst einmal den Körper verlassen hat? Im alten Griechenland war Fett Opfergabe oder Grabbeigabe. In seiner Flüssigkeit, so glaubte man, sei die Essenz des Lebens enthalten, die die Trockenheit der Knochen ausgleiche. Heutige, nicht selten bizarre Rituale bezeugen neue Interpretationen. Im Jahre 2005 ließen sich der australische Installationskünstler Stelarc und seine Partnerin Nina Sellars Fett absaugen und vermischten es in einem durchsichtigen Behälter. Das daraus entstandene Kunstwerk heißt Blender („Mixer“). Alle paar Minuten rührt ein elektrischer Mixer das Gemisch durch, damit es flüssig und homogen bleibt. Nach Angaben der Künstler besteht ein Großteil ihrer künstlerischen Leistung darin, vom Gesetzgeber die Anerkennung als Eigentümer ihrer eigenen Körperbestandteile unddamit die Erlaubnis erhalten zu haben, das Werk überhaupt zu erschaffen. Noch viel weiter ging der Journalist und selbsterklärte „Gastronaut“ Stefan Gates, der aus seinem Körper abgesaugtes Fett in Glycerin umwandelte und als Zuckerguss eines Kuchens verwendete, den er dann aß. Was bedeuten solche spektakulären Aktionen – die Simulation einer geschlechtlichen Vereinigung im Fettmixer, der schockierende Autokannibalismus? Vielleicht einfach nur, dass wir auch weiterhin mit dem Fett unsere Schwierigkeiten haben
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