Anatomien
Kontinuität des Lebens (was aus biologischer Perspektive sinnvoll ist, da Knochen Mark enthalten, das wiederum Blutkörperchen produziert).
Der symbolträchtigste Knochen ist natürlich der Schädel. Seine Augenhöhlen starren, seine Zähne grinsen, sein lippenloser Mund klagt uns an. Der Schädel ist die ultimative Warnung vor der menschlichen Eitelkeit, das Vanitas-Symbol der klassischen Kunst, denn er besteht aus Knochen und ist trotzdem weiterhin als Gesicht erkennbar. Nicolas Poussin malte zwei Bilder, die er Et in arcadia ego betitelte, und auf dem weniger bekannten thront ein Schädel unheilvoll auf einem Grabdeckel. Der Titel der beiden Gemälde steht als Inschrift auf dem Grab. Wie der Kopf pars pro toto für den ganzen lebenden Menschen stehen kann, steht der Schädel für den ganzen Toten. Ein kleiner gezeichneter Schädel zeigte früher im Logbuch eines Schiffes den Tod eines Besatzungsmitglieds an. Dieser Brauch ist wohl der Ursprung der Piratenfahne mit dem weißen Schädel und den gekreuzten Knochen auf schwarzem Grund. Auf Englisch heißt diese Fahne „Jolly Roger“, was vermutlich aufden französischen Ausdruck jolie rouge zurückgeht, denn die Fahnen waren früher rot wie Blut.
Bei anderen Gelegenheiten kommen Schädel und Körper wieder zusammen. Ganze Skelette tanzen die danse macabre, den Totentanz, ein im 15.
Jahrhundert im Zuge der Pestepidemien berühmt gewordenes allegorisches Kunstmotiv. In Camille Saint-Saëns’ Orchesterstück Danse macabre (1874) ahmt das Xylophon gut vernehmbar das unheimliche Knochenklappern nach.
Alte medizinische Texte nennen das Knochengerüst oft ein Naturwunder. Die Präzision des Knochenbaus, der uns das Gehen und Laufen und Heben und Tragen ermöglicht, war nach Meinung vieler ein Gottesbeweis. „Kann denn irgendjemand, und sei es mithilfe der kompliziertesten und flexibelsten jemals erdachten Maschine, eine so augenscheinlich künstliche Konstruktion erschaffen als die Wirbel des menschlichen Halses“, fragte William Paley in der berühmtesten dieser Lobeshymnen, seiner 1802 veröffentlichten Naturtheologie . Paley bestaunt die Halswirbel deshalb so sehr, weil sie es dem Kopf erlauben, zu nicken und sich nach links und rechts zu drehen. Das ist natürlich reine Teleologie: Weil die Knochen so wunderbar funktionieren, müssen sie auf ein Wunder zurückgehen. Paley ist der Erfinder jener berühmten Analogie zwischen der Schöpfung und einer Taschenuhr, die so kompliziert ist, dass sie nur entstanden sein kann, weil ein Hersteller sie absichtsvoll erschuf. Als Beleg für diese These mussten vor allem die Einzelheiten der menschlichen Anatomie herhalten.
Wie dem auch sei, wenn wir ein Skelett vor uns haben, sehen wir nicht nur ein Symbol der Sterblichkeit, sondern auch ein mechanisches System. Einige Knochen fungieren als tragende Säulen. Andere gleichen vielbeanspruchten Querbalken. Stellen Sie sich ein Skelett vor, das eine Einkaufstüte trägt. Ihr Gewicht wirkt sich durch die Knochen der Hand und des Armes hinauf bis zum Schultergelenk aus. Dann geht es weiter über das Schlüsselbein, das Schulterblatt und andere Knochen zum Rückgrat, durch dessen Wirbel zur Hüfte und dann durch die Knochen beider Beine bishinunter auf den Boden. Wenn Sie die Einkaufstüte hochheben, stehen die Armknochen unter Spannung, während Rückgrat und Beinknochen zusammengedrückt werden. Das Schlüsselbein fungiert als Querbalken: Spannkräfte dehnen seine obere Seite und Kompressionskräfte drücken die untere zusammen, wenn er sich unter der Ladung beugt.
Auch wer darin kein Zeichen göttlichen Wirkens ausmachen kann, muss Paley recht geben, dass die Knochen Beachtliches leisten. Eine unscheinbare junge Dame von vielleicht fünfzig Kilogramm besitzt ein Knochengerüst, das gerade einmal drei oder vier Kilogramm wiegt. Das ist, wie Sie zugeben werden, unglaublich wenig – es ist leichter als viele Plastikskelette für Medizinstudenten. Warum überrascht uns das? Wir meinen, Knochen seien schwer und Fleisch sei leicht. Das liegt wohl daran, dass Muskelfleisch bewegt, während Knochen bewegt werden. Wir stellen uns die Muskeln aktiv und im Gegensatz dazu die Knochen passiv vor – wir glauben, dass sie träge sind und uns Widerstand leisten. Nun, die Sektion einer Leiche kann uns hier eines Besseren belehren. Wenn Sie jemals einen Knochen in der Hand gehalten haben und dann versuchen, einen ganzen Arm oder ein Bein hochzuheben, stellen Sie fest, dass Fleisch schwer
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