Anatomien
soll.
Shakespeare nimmt oft auf den Körper oder bestimmte Körperteile Bezug. „Fleisch“ wird 142 Mal erwähnt; im Kaufmann von Venedig kommt es doppelt so häufig vor wie in jedem anderen Stück. In den Dramen und Sonetten gibt es 1047 „Herzen“, dazu kommen 208 „herzlich“, „Herzensangelegenheiten“ und andere Variationen. Mit 39 Erwähnungen steht nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, Romeo und Julia, sondern König Lear an der Spitze der Hitliste. „Ich kann mein Herz nicht auf die Zunge heben“, lautet Cordelias deutliche Antwort auf die Frage ihres Vaters, ob sie ihn mehr liebt als ihre beiden redegewandten Schwestern. Ein versteckter Hinweis darauf, dass sie wirklich die Lieblingstochter ihres Vaters ist, steckt schon in ihrem Namen: Shakespeare-Forscher haben bemerkt, dass „Cordelia“ genauso klingt wie „cor-de-Lear“ (Lears Herz).
Hamlet gibt selbst zu, dass er eine Taubenleber, aber keine Galle besitzt. Auf das Konto des Dänen geht Shakespeares einzige Erwähnung von Knöcheln, denn Hamlet steht so vor Ophelia: „mit ganz offnem Wams, / Kein Hut auf seinem Kopf, die Strümpfe schmutzig / Und losgebunden auf den Knöcheln hängend, / Bleich wie sein Hemde, schlotternd mit den Knien.“ Macbeth verweist auf seine „entblößte Macht“ (das Wort „barefaced“ taucht hier zum ersten Mal in der englischen Sprache auf). Auch die „lily-liver“ (Lilienleber, milchige Leber) hat Shakespeare erfunden und zweimal benutzt, und zwar im Macbeth und im Lear . Eine bleiche Leber galt als Zeichen der Schwäche, da man vermutete, dass die Leber für die Blutherstellung und die Körperwärme verantwortlich sei. Des Weiteren gibt es Köpfe und Hände, Hunderte von Augen und Ohren sowie bemerkenswerte 82 Gehirne, 44 Mägen und 37 Bäuche, 29 Milzen, 20 Lungen, 12 Därme, 9 Nerven und eine einsame Niere, nämlich in den Lustigen Weibern von Windsor , wenn Falstaff sich als bemitleidenswerter Kerl darzustellen versucht, dem die lustigen Weiber übel mitspielten – wie solle „ein Mann von meinen Nieren“ das aushalten! Keine Shakespeare’sche Figur ist so wunderbar körperlich wie Falstaff, der uns in derselben Szene schon daran erinnerte, wie seine riesige Gestalt nach einem Streich der Frauenzusammenbrach und in einem Korb „wie der Abfall vom Metzger“ weggeschafft wurde.
Zu Shakespeares Zeiten befand sich unser Körperverständnis in der Krise. Damals ungefähr begann man, den Körper vom Rest der Welt klar abzugrenzen. Wir wurden nach den Worten des Soziologen Norbert Elias zum homo clausus, zum abgeschlossenen Menschen. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. War nicht der lebende Körper schon immer ein undurchdringliches Geheimnis? Wenn ich mich kratze, weil es mich irgendwo unter der Haut juckt, weiß ich, dass die Haut den Grund dafür vor mir verbirgt. So war es schon immer. Mir drängt sich freilich der Gedanke auf, dass dem Jucken effektiver zu begegnen wäre, wenn ich durch die Haut hindurchsehen oder sie sogar einen Moment lang auseinanderschieben könnte. Ärzten geht es wahrscheinlich erst recht so. Aber der Gedanke ist anscheinend modern. Wenn man den Theoretikern glaubt, konnten sich juckende Mittelaltermenschen so etwas nicht vorstellen. Sie hätten die Antwort auf körperliche Probleme draußen gesucht, vielleicht mithilfe von Astrologie oder Magie.
Der Aufstieg der Anatomie ist Teil dieser Veränderung, denn wenn man den Körper öffnen will, muss er erst einmal geschlossen sein. Wie der Skeptiker muss der Anatom etwas mit eigenen Augen sehen, bevor er daran glaubt. Vesalius’ De humani corporis fabrica hat die Tore zu unserem Inneren aufgetan. Von nun an sprachen die Menschen von körperlichen Dingen offener und nicht so verschämt. Sogar Königin Elisabeth versicherte den Truppen, die sie in den Kampf gegen die spanische Armada schickte: „Ich weiß, dass ich den Körper einer schwachen Frau besitze, aber ich besitze auch das Herz und den Magen eines Königs, und zwar eines Königs von England.“ Shakespeare erweitert, indem er oft über äußere oder innere Körperteile schreibt, die Ausdrucksmöglichkeiten der Literatur. Eine Fülle frischer Bilder und Metaphern beruhen auf dem Körper. Der italienische Medizinhistoriker Arturo Castiglioni erinnert uns an die Vesalius-Illustration eines „meditierenden Skelettes“, dessen rechte Hand auf einem Totenkopf ruht, der auf einer steinernenGrabplatte liegt. Castiglioni behauptet, dieses Bild habe Shakespeare zu
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