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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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werden.
    Mit Vorsicht genießen sollten wir allerdings Sensationsberichte über Mörder, die das Fett ihrer Opfer für teures Geld an Kosmetikfirmen verkaufen, oder über Schönheitschirurgen, die das Fett ihrer Patienten als Treibstoff für ihr Auto verwenden. Praktisch gesehen ist Fett fast immer gleich Fett, und es ist einer der billigsten Teile eines Tieres. Menschliches Fett zu verwenden, wäre viel zu aufwendig und böte keinerlei Vorteile gegenüber Tier- oder Pflanzenfett. Am „Menschenöl“ sind allenfalls die darin enthaltenen Zellstoffe interessant, weniger die hochenergetischen Lipide. Eine von Patricia Zuk an der University of California in Los Angeles geleitete Forschergruppe bewies 2002, dass sich Stammzellen aus menschlichem Fett sehr viel einfacher in Muskeln, Knorpel oder Knochengewebe umwandeln lassen als erwachsene Stammzellen aus anderen Körperteilen. Hier zeigt sich endlich eine Einsatzmöglichkeit für unseren Rettungsring.

Knochen
    Die in alten und neuen Sektionssälen, in den medizinischen Abteilungen der Universitätsbuchhandlungen und, ja, auch am Galgen so eindrucksvoll baumelnden Skelette sind von beeindruckender Struktur. Mit dem (Knochen-)Gerüst einer Argumentation meinen wir das Wesentliche. Wenn uns etwas in die Knochen fährt, geht es uns im Tiefsten an. Auch ästhetisch und vom Standpunkt des Ingenieurs aus ist unser Skelett ein Wunderwerk.
    Als mit der Erfindung des Röntgengeräts 1896 zum ersten Mal die Knochen abgelichtet wurden, wollte jeder sie sehen. Zu dem Bericht der Wiener Neuen Freien Presse vom 5.

Januar gehörte ein Röntgenbild von Frau Röntgens linker Hand. Erkennbar waren nur die Knochen und der Ehering. Das Fleisch war durchsichtig geworden. Binnen weniger Tage begannen Hobby-Bastler aller Art, Röntgenapparate als Unterhaltungsgeräte sowie teilweise auch für die von Röntgen eigentlich vorgesehenen medizinischen Untersuchungen herzustellen. Die allgemeine Begeisterung war so groß, dass Ärzte ihre Patienten baten, zu Hause Röntgenbilder aufzunehmen – dabei fügten sich einige durch lange Belichtungszeiten schwere Schäden zu.
    Ausführlich gewürdigt wird die neue Technologie in Thomas Manns Roman Der Zauberberg von 1924. Der naive Protagonist Hans Castorp besucht ein Sanatorium für Tuberkulose-Patienten in den Alpen. Er begleitet seinen Vetter zur Untersuchung und lässt, obwohl er selbst nicht krank ist, seine eigene Hand röntgen. Er sieht, was er erwarten durfte, „was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist und wovon er auch niemals gedachthatte, dass ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab.“

    Noch erstaunlicher ist der makabre erotische Unterton, der die Rede über die neuen Körperbilder begleitet. Sie erlauben es zwar nicht, durch die Kleidung auf die Haut zu schauen, aber sie lassen doch viel tiefere Einblicke zu. Beim Anblick der Röntgenaufnahme eines Frauenarms bemerkt Hans Castorp: „Damit umfangen sie einen beim Schäferstündchen.“. Er stellte sich eine Frau vor, die ihre eigene Untersuchung erwartet, „mit gerundetem Rücken und vorfallenden Schultern, sodass die Nackenwirbel hervortraten, ja, unter dem anliegenden Sweater beinahe das Rückgrat zu erkennen war“.
    Die Öffentlichkeit wollte sofort mehr als nur Knochen sehen. Am 5.

Februar 1896, nur einen Monat nach Bekanntwerden der Erfindung, kontaktierte der Medienmogul William Randolph Hearst den Erfinder Thomas Edison und bat ihn, eine Röntgenaufnahmedes menschlichen Gehirns zu machen. Edison ergriff erst die Gelegenheit und dann den Kopf seines Mitarbeiters beim Schopfe und unterzog ihn einer einstündigen Röntgenbestrahlung. Doch außer der „kurvigen Undurchsichtigkeit“ des Schädels sah er nichts. Erst Jahrzehnte später enthüllten ganz andere Techniken Aspekte dieses geheimnisvollen Körperteils. Nach wie vor sind Röntgenstrahlen allerdings der medizinische Königsweg, um Knochen in Abhebung von Fleisch und anderem weichen Gewebe sichtbar zu machen, und ihre geisterhafte Negativzeichnung hat an Faszinationskraft nichts verloren.
    Fleischliche Sünden mag es geben, aber das Knochengerüst, das unser Gewicht trägt, ist der von Sünden freie Sklave des Körpers, ein untadeliger Mechaniker mit bewundernswertem Pflichtbewusstsein. Als einziger Körperteil und anders als der ganze vergängliche Rest hält das Skelett ewig. Zwar wirkt das Knochengerüst leblos, weil es steif und fest ist, doch steht es auch für die

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