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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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stärker, wenn sie unter Druck, als wenn sie unter Spannung stehen. Erst bei einem Druck von etwa anderthalb Tonnen wird ein Knochen brechen. Die Knochen eines Kinderarms halten ohne Probleme dasGewicht eines Mittelklassewagens aus. Auch die Bruchfestigkeit von Knochen ist erstaunlich, wenn man sie beispielsweise mit Metallen wie Kupfer oder Eisenguss vergleicht. Nur wenn sie verdreht werden, halten Knochen relativ wenig aus, weshalb die meisten Brüche die Folge einer Drehbeanspruchung sind.
    Die meisten Knochen, vor allem die langen Knochen in Armen und Beinen, sind ziemlich gerade. Nicht weil der Körper mit möglichst wenig Material eine möglichst große Ausdehnung erreichen will, sondern weil ein gerader Knochen einfach mehr aushält als ein gebogener. Aus dem gleichen Grund sind auch die tragenden Säulen eines Gebäudes gerade. Die meisten größeren Knochen sind Röhren. Ihr Metzger wird Ihnen gern bestätigen, dass man im Querschnitt im Inneren eine Art löchrigen Schwamm findet. So ist er natürlich leichter, als wenn er massiv wäre. Doch das ist nicht alles. Es handelt sich nämlich nicht um einen Schwamm, sondern um eine ausgeklügelte Mikrostruktur, deren Netzwerk von Druckgliedern genau dort stark ist, wo der Knochen oft beansprucht wird. Möbeldesigner entwerfen heute Stühle und Tische auf der Grundlage desselben Prinzips. Per Computer können sie berechnen und darstellen, wo sich die wichtigen Strukturelemente befinden müssen.
    Beeindruckend ist weniger irgendein einzelner Knochen als die Gesamtheit des Knochengerüsts. Schon in dem alten Spiritual „Dem Bones“ heißt es (wissenschaftlich nicht ganz korrekt), dass jeder Knochen mit mindestens einem anderen verbunden ist. Auf den ersten Blick ist der Körper einfach eine Ansammlung gerader, fester Balken, die mit dem jeweils nächsten irgendwie verbunden sind und so ein Ganzes ergeben. Der Körper als mechanisches System rückte erst mit dem Start des amerikanischen Raumfahrtprogramms in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses, weil man nun genau wissen musste, welche Auswirkungen die Schwerelosigkeit haben würde. Stützen konnte man sich damals auf die Pionierarbeit des Leipziger Anatomen Christian Braune und seines Schülers Otto Fischer. In den 1880ern untersuchten sie den Gang des Menschen, wobei sie wiederum auf Vorarbeiten unter anderem vonÉtienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge zur Bewegung von Menschen und Tieren zurückgreifen konnten. Dabei kam zum ersten Mal die Hochgeschwindigkeitsfotografie zum Einsatz. Braune und Fischer wollten zunächst feststellen, wo sich der Schwerpunkt des Körpers befand. Und das taten sie, indem sie versuchten, gefrorene Kadaver ins Gleichgewicht zu bringen. Auch die Schwerpunkte verschiedener Körperteile ermittelten sie, indem sie diese Teile vom Körper abtrennten und ausbalancierten. Selbst heutige Berechnungen zu den Auswirkungen eines Schleudertraumas bei Autounfällen gehen noch auf eine kleine Zahl solcher frühen Studien zurück.
    Allerdings kommt in diesen eher plumpen Herangehensweisen die von Paley so bewunderte elegante Komplexität nicht zum Tragen. Das menschliche Knochengerüst hat schließlich außerordentlich vielseitige Aufgaben zu erfüllen – es geht um Bewegung, Gewichtsausgleich, Widerstand und Geschicklichkeit. Die Knochenbeanspruchung ist enorm. Schon beim ganz normalen Gehen müssen viele einzelne Knochen ständig neu ausgerichtet werden. Das Gehen besteht aus mindestens einem Dutzend Einzelbewegungen: Die Beckenrotation ermöglicht es dem Körper, sich um sein Standbein zu drehen, sodass das Spielbein ausschreiten kann, bis die Ferse auf dem Boden aufkommt; dann müssen Körpergewichte vom alten Standbein auf das nun vordere Bein verschoben werden. Viele kleine Beugungen von Knie, Knöchel und Fuß gewährleisten, dass die Füße ohne Probleme auf dem Boden aufkommen und sich reibungslos wieder heben. Die an diesen komplizierten Vorgängen beteiligten Kräfte entsprechen zuweilen dem Achtfachen des Körpergewichts.
    All das ist kompliziert und verwickelt, sodass es sinnvoll sein könnte, sich noch einmal mit den Grundlagen zu beschäftigen. Ich wende mich dafür nicht an einen Osteologen, sondern an einen Bauingenieur. Chris Burgoyne lehrt und forscht an der Universität Cambridge zum Thema Betonbau, hat sich aber auch schon mit dem Knochenbau beschäftigt. Wie ein richtiger Ingenieur nimmt er Bleistift und Papier zu Hilfe, wenn er etwas erklärt, und

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