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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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zurückführen, der im 19.

Jahrhundert von Irland als „verletzlicher Ferse des britischen Achilles“ sprach.
    Am Knochen ist nicht nur die Physik bemerkenswert, sondern auch das Gewebe. Es muss seine tragenden Aufgaben erfüllen, während es mit dem ganzen Körper mitwächst. Knochen entwickeln sich, wenn sie beansprucht werden. Welche Kräfte sie im Alltag aushalten, zeigt sich an winzigen Rissen, die wiederum mittels chemischer Nachrichten um neues Knochengewebe bitten. Aber ein Knochen gibt auch schon nach, wenn er nur leicht überbeansprucht wird, nämlich bei etwa 120 Prozent und nicht, wie zum Beispiel Stahl, erst bei 200 Prozent. „Der Körper ist gewissermaßen auf den Punkt konstruiert – alle Knochen haben diese 120-Prozent-Schwelle“, sagt Burgoyne. Mit anderen Worten: Ein Knochen wird nie „zu stark“ werden, es sei denn, er wird dazu herausgefordert, dann wird er eben „stark genug“. Umgekehrt wird ein Knochen normalerweise auch nicht schwächer, außer man benutzt ihn gar nicht mehr. Wenn Sportler sagen, sie „geben 110 Prozent“, liegen sie vielleicht gar nicht so falsch.
    Die Schwerkraft zwingt den Körper, Gewicht einzusparen, wenn er wächst. Das verdeutlichte Haldane mit Blick auf die Riesen im Pilgrim’s Progress . Der Körper tut das unter anderem dadurch, dass er Knochen schneller in die Länge als im Durchmesser wachsen lässt (wobei die relative Stärke bei Erwachsenen abnimmt). Knochen wachsen ganz offensichtlich dort am besten, wo man sie am meisten braucht. Sie reagieren damit dynamisch und präzise auf Einflüsse von außen. Seit Langem weiß man, dass wir Knochen dadurch stärken können, dass wir sie beanspruchen. Ein römischer Soldat hat längere Knochen in dem Arm, mit dem er den Speer wirft, als in dem anderen, und das Gleiche gilt heute für Tennisspieler. Besonders wenn man schon als Kind oder Jugendlicher mit dem Turnen oder dem Ballett anfängt, formen sich die Knochen der Beanspruchung gemäß, also noch bevor sie fester werden.
    Deshalb können wir aus Knochenfunden auch viele Schlüsse über unsere Vorfahren ziehen. Fälschlicherweise glauben wir, dass wir größer sind, als sie es waren, und dass das an unserer guten Ernährung liegt. Skelettfunde des Homo erectus und des frühen Homo sapiens zeigen aber, dass unsere Ahnen größer waren, und zwar weil sie körperlich so hart arbeiteten. Aus der Größe der rauen Stellen auf den Knochen, an denen die Muskeln ansetzten, schließen wir, dass sie auch sehr viel kräftiger und schwerer waren. Wir können diese übermenschlichen Maße wieder erreichen, aber nur wenn wir uns anstrengen. Wir werden nicht aus evolutionären Gründen kleiner, sondern weil wir uns anders verhalten.
    Bis vor Kurzem war wenig über diese Form des Knochenwachstums bekannt. Das Wachstum in Kindheit und Jugend ist gut erforscht: Knorpelzellen an den Enden langer Knochen teilen sich und werden härter. Aber wie Knochen auf ihren alltäglichen Gebrauch oder ihre Vernachlässigung reagieren, war weniger klar, obwohl es ein wichtiges Thema ist. Während ein gebrochener Knochen eingegipst ist, verliert er bis zu einem Drittel seines Gewichts. Mit dem richtigen Training können wir diesen Verlust zum Glück schnell wieder ausgleichen. In der Schwerelosigkeit verkümmern die Knochen, deshalb sind Bewegungsprogramme für Astronauten so wichtig.
    Und jetzt kommt das Geheimnisvolle. Am Knochen lässt sich ein eigenartiges Phänomen namens Piezoelektrizität beobachten. Wenn eine Kraft auf ihn ausgeübt wird, entsteht ein schwaches elektrisches Feld, und zwar um die kleinen Risse herum, die sich auch bei alltäglicher Beanspruchung bilden. Noch nicht alle Einzelheiten sind genau bekannt, aber ganz offensichtlich hat der Effekt mit der Regenerationskraft der Knochen zu tun. Die Vorläufer von Knochenzellen sind sogenannte Osteoblasten. Sie sind positiv geladen, denn sie werden von Knochen bildenden Kalziumionen begleitet. Wenn ein Knochen im Alltag beansprucht wird, entsteht durch den piezoelektrischen Effekt eine negative Ladung, die die Osteoblasten automatisch dorthin lockt, wo sie am meisten gebraucht werden.William Paley hätte sich über diesen genialen Mechanismus sicher riesig gefreut.
    Wie Paley stellen wir uns das Knochengerüst vielleicht als perfekten architektonischen Bau vor, und das ist es für die meisten auch. Wer verstehen will, was bei seiner Errichtung alles schiefgehen kann, sollte die anatomische Sammlung im Londoner Royal

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