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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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fertigtblitzschnell kleine Zeichnungen von Kraftlinien an, während er spricht. Es gebe, so erklärt er mir, im Prinzip drei Hebelarten, und alle drei seien im Körper vorhanden. Bei der ersten liegt der Drehpunkt zwischen der zu hebenden Last und einer nach unten wirkenden Kraft, wie bei einer Wippe. Bei den beiden anderen liegt der Drehpunkt an einem Ende des Hebels, wobei entweder die Kraft an einem Ende eine Last in der Mitte anhebt oder eine Kraft in der Mitte eine Last an einem Ende. Wenn Sie einen Finger heben, sind auch Muskeln in Ihrem Arm beteiligt, die weit oberhalb des Drehpunkts im Fingergelenk liegen. Hier ist es wie bei der Wippe: Das Gewicht des Fingers liegt auf der einen Seite des Drehpunkts, die Muskelkraft wird auf der anderen ausgelöst. Versuchen Sie nun, mit Ihrem Bizeps Ihren ganzen Arm zu heben. Diesmal liegt der Drehpunkt an der Schulter, und der Muskel, der die Kraft ausübt, liegt zwischen der Schulter und dem Schwerpunkt des Armes. Und jetzt stellen Sie sich noch einmal auf die Zehenspitzen. Die aufwärts wirkende Kraft stammt aus der Achillessehne und den Beinmuskeln, der Drehpunkt liegt dort, wo die Zehen mit dem Rest des Fußes verbunden sind, und das Körpergewicht dazwischen.
    So, das war’s. Ihr Muskelkater sagt Ihnen, dass die Knochen kein vollständiges Tragwerk bilden. Sie gehören zum sogenannten Stütz- und Bewegungsapparat. In jeder Struktur muss es Teile geben, die unter Spannung stehen, und Teile, die Druck aushalten, sonst fällt sie entweder auseinander oder sie zerbricht. Die Knochen haben vor allem mit dem Druck zu tun, die Muskeln mit der Spannung. Burgoyne hat einmal die Struktur der menschlichen Rippen analysiert. Die Rippen sind weder gleichmäßig rund wie eine Stange noch flach wie ein Korsett. Vielmehr sind sie dort, wo sie mit dem Rückgrat verbunden sind, etwa trapezförmig, dann ungefähr dreieckig und schließlich in der Nähe des Brustbeins länglich. Auf den ersten Blick macht das ihre Aufgabe, die wichtigsten Organe zu beschützen, nicht gerade leichter. Man würde erwarten, dass die Knochen überall besonders stark sind. Die Form der Rippen richtet sich aber auch nach dem Muskelgewebe, das an rauen Erhöhungen der Knochenoberfläche befestigt ist. Im Grunde verbindet dieses Muskelgewebe die Rippen miteinander. Wenn man die Muskeln mitbetrachtet, zeigt sich, dass die anscheinend ungleichmäßige Form der Rippen stets die Lasten berücksichtigt, die an einer bestimmten Stelle zu tragen sind.
    Allerdings sollten wir die baulichen Mängel unseres Knochengerüsts nicht verschweigen. Es ist nicht ganz so perfekt, wie William Paley und andere dachten. Wir können nicken und den Kopf schütteln, das hat Paley zu Recht bewundert, aber wir können den Kopf nicht um 360° drehen, was manchmal sicher nützlich wäre. Die Rippen können Schläge von außen ganz gut abfangen, sind aber von innen nicht besonders widerstandsfähig. Häufig ist der Grund für einen Rippenbruch einfach ein schwerer Hustenanfall.
    Eine überraschend vorteilhafte Eigenschaft des Knochengerüsts ist, dass die beiden größten Armknochen eine feste Stange bilden können, indem sie mithilfe des zweiten Unterarmknochens, der Elle, am Ellenbogen eine Arretierung erzeugen. Wir können eine schwere Last wie etwa einen Wassereimer tragen und ihn so vom Körper weghalten, dass die Knie nicht bei jedem Schritt daran stoßen. Andererseits ist der Ellenbogen auch ein Schwachpunkt, wie jeder weiß, der schon einmal seinen Musikantenknochen gespürt hat. Dort liegen die zu den beiden kleinen Fingern führenden Nerven ohne eine schützende Muskelschicht zwischen Ellenbogen und Haut. Der Schwachpunkt hat mit unserer evolutionären Entwicklung zum aufrecht gehenden Zweifüßler zu tun. Wenn wir noch auf allen Vieren gingen, wären unsere Vorderbeine so angewinkelt, dass die Ellenbogen nach hinten zeigen würden, nicht nach außen. Dadurch wären sie besser geschützt. Auch unsere Knie müssen einiges aushalten, wie wir ab einem bestimmten Alter merken, und auch das hat mit der Evolution zu tun: Statt vier müssen nun zwei Beine das ganze Gewicht tragen. Die Achillesferse stellt dagegen sicher keinen Schwachpunkt dar – obwohl natürlich stimmt: Wer einen vergifteten Pfeil in die Ferse geschossen bekommt, wie Achilles in der Mythologie, wird zusammenbrechen. Dass man überdie Ferse als besonderen Schwachpunkt spricht, den es zu stärken gilt, lässt sich aber eher auf den Dichter Samuel Taylor Coleridge

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