Anatomien
College of Surgeons besuchen. Dort befindet sich das Skelett eines Mannes, der an einem seltenen genetischen Defekt namens Fibrodysplasia litt, bei dem Muskelgewebe zu Knochen wird, wodurch riesige kalkige Wucherungen entstehen, die den Körper im Lauf der Jahre völlig unbeweglich werden lassen. Das verdeutlicht, dass das Knochengerüst, anders als das Stahlgerüst eines Gebäudes, veränderlich ist, sich organisch entwickelt und auf chemische Substanzen und äußere Kräfte reagiert.
Dass wir Knochengewebe nun im Labor züchten können, fasziniert viele Künstler. Während seiner Zeit am Londoner Royal College of Art suchte Tobie Kerridge Paare, die einander einen ganz besonderen Liebesbeweis schenken wollten: einen Ring aus dem eigenen Knochengewebe. Teilnehmen konnten 2005 allerdings nur Paare, wenn bei beiden Partnern die Entfernung der Weisheitszähne anstand. Aus kleinen Splittern der ganz normal herausoperierten Zähne züchtete Kerridge neues Knochengewebe, das dann unter Zuhilfenahme der richtigen Nährstoffe auf einem ringförmigen Gerüst mehrere Wochen lang wuchs und aushärtete. Jeder Partner konnte dann einen Ring tragen, der wirklich einmal Teil des anderen war. „Etwas Persönlicheres gibt es nicht, und nichts könnte unsere Verbindung besser symbolisieren. Wir sind zwei Menschen, die nun wirklich zusammengehören“, schrieb ein Bewerber. Die Paare nahmen allerdings aus ganz verschiedenen Gründen teil. Es gab ein Materialwissenschaftlerpaar, zwei Aktivisten, die auf den Handel mit Blutdiamanten aufmerksam machen wollten, und zwei Piercingkünstler, die sich für das tiefste Innere des Körpers interessierten. Die teilnehmenden Paare durften an der Gestaltung der Ringe mitwirken. Gravuren und die weitere Ausschmückung spiegelten das Bewusstsein einer dreißigtausendjährigen Menschheitsgeschichte, in der Knochen sowohl Werkzeuge als auch Schmuckstücke waren.
TEIL 2: DIE TEILE
Die begehrtesten Stücke
Im Bildhintergrund der herrlichen Illustrationen, die Vesalius’ siebenbändiges Werk über die menschliche Anatomie schmücken, befinden sich zahllose sprechende Einzelheiten. Mehr als 200 von einem unbekannten venezianischen Künstler, vielleicht einem Schüler Tizians, in Birnenholz geschnittene Darstellungen zeigen auf jede mögliche Art und Weise sezierte Körper und ihre Teile. In detaillierten Begleittexten erörtert Vesalius Aussehen und Funktionen dieser Teile. Er greift dabei auf eigene Forschungsergebnisse und auf die Einschätzungen antiker Gelehrter sowie autobiografische Anekdoten zurück. Als De humani corporis fabrica 1543 erschien, war es, wie der Autor es sich zu Beginn seiner Arbeit vorgenommen hatte, die wissenschaftlich präziseste und vollständigste Enzyklopädie des menschlichen Körpers, die je veröffentlicht worden war – und das sollte lange so bleiben. Es stellt seinen Untersuchungsgegenstand deutlich und klar dar, um den Leser zu unterrichten und aufzuklären. Viele Bilder sind auch dramatisch oder pathetisch. Wenn eine Zeichnung Muskeln zeigt, sieht man die Haut an der Seite noch herabhängen wie die verfließenden Uhren von Salvador Dalí. Auf Abbildungen innerer Organe kommt der Rumpf ganz ohne Gliedmaßen aus, wie bei einer antiken Statue. Die Organe strotzen vor fleischeslustigem Realismus, aber die Stümpfe von Armen und Beinen sind abgeschattet, als bestünden sie nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus dem Marmor eines Bildhauers. In den Illustrationen verschmelzen Kunst und Naturwissenschaften.
Auf einem dieser Holzschnitte befindet sich auch das einzige verifizierte Porträt von Vesalius selbst. Man sieht ihn, wie er einen abgetrennten Unterarm hochhält und die Funktionsweise der Hand erklärt. (Wir wissen, dass sowohl Tulp als auch Rembrandt dieses Bild kannten.) Er ist untersetzt, hat einen dunklen Teint, krause,kurz geschnittene Haare und einen sorgfältig gestutzten Bart. Sein Kopf wirkt zu groß für seinen Körper, der im Vergleich zu der Leiche, an der er arbeitet, fast winzig wirkt. Er schaut uns aus dem Buch heraus direkt an, und sein Blick ist geradezu schalkhaft – er passt zu dem schwarzen Humor, der auch einige andere Zeichnungen prägt. Auf einer von ihnen steht ein Muskelkörper und hält triumphierend das Messer hoch, mit dem er sich gerade die Haut abgeschält hat. Auf einer anderen stützt sich ein Skelett lässig auf einen Spaten, mit dem es sich offenbar selbst ausgegraben hat – und mit dem freien Arm macht es eine Geste, als
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